Und Stille, endlich Stille

Tadeusz Kantors theatralisches Vermächtnis „Heute ist mein Geburtstag“  ■ Von Kai Voigtländer

Prolog. Kerzen, Kuchen, Kaffeetassen, Geburtstag. Heute ist mein Geburtstag. Was feiern wir da eigentlich im jährlichen Wiederholungszwang? Die Erinnerung an die eigene Geburt? Den Tag, von dem an wir uns unaufhaltsam dem Ende nähern? Das Leben im Vorübergehen, den Schnee vom vergangenen Jahr? Uns... selbst?

Wann hat Jonas Stern Geburtstag? Ein polnischer Maler, geboren 1904 in Galizien, jüdischen Glaubens. Gehörte zur polnischen Avantgarde, war in den dreißiger Jahren Mitglied der Künstlergruppe „Grupa Krakowska“. 1943 ins Ghetto von Lemberg deportiert, entkommt er — wie durch ein Wunder, pflegt man zu sagen — dem Holocaust: Nach einer Massenerschießung wühlt er sich lebendigen Leibes in das Leichengebirge, wird für tot gehalten und mit den Toten aus dem Ghetto transportiert. Er kann nach Ungarn fliehen und stirbt 1988, hochbetagt, in Zakopane. Seit 1943 feiert Jonas Stern seinen Geburtstag am Tag seiner Flucht aus dem Ghetto. Aujourd'hui c'est mon anniversaire. Jonas Stern, der Maler, ist einer der Geburtstagsgäste. Ein alter Freund des Gastgebers.

Das Zimmer. Ein Raum der Erinnerung, nachtschwarz. Zitate eines Künstlerateliers: ein roher Holztisch, ein Stuhl, ein Bett. Mehrere Hocker, schief, eine Petroleumlampe. Auf dem Tisch alte, zerfledderte Bücher, ein Foto mit Silberrahmen. Im Hintergrund eine Tür auf schwarzem Grund. Auf dem Boden: ein Haufen Leinensäcke, braungelb, offenbar mit irgend etwas gefüllt. Drei leere Bilderrahmen gliedern den Raum wie ein Triptychon, links und rechts Hochformate, in der Mitte ein Querformat. Leere Bilder. Andeutungen einer Staffelei über den Rahmen, hinter ihnen Podeste aus rohem Holz. Das „arme Zimmer der Imagination“. Hier feiert Tadeusz Kantor seinen 75. Geburtstag.

Oder besser: In diesem Raum hätte er ihn zelebriert als theatralisches Ereignis, der polnische Avantgardist, Regisseur, Aktionskünstler und Autor — mit den Figuren seiner obsessiven Erinnerung, den Schreckensbildern, die seit fast 20 Jahren sein „Theater des Todes“ beleben. Hätte — wenn er nicht gestorben wäre, plötzlich und unerwartet, in der Endphase der Proben zu seinem neusten — und nun endgültig letzten — Stück. Heute ist mein Geburtstag — so der Titel von Kantors Requiem. Anfang und Ende sind eins geworden, ein würdiger Abschied für den Magier des Todes.

Aber eigentlich dürfte es diese Aufführung im Pariser Centre Pompidou gar nicht geben. Denn die Stücke Tadeusz Kantors lebten vor allem davon, daß er selbst in ihnen anwesend war — als Figur in immer neuen, immer überraschenden Brechungen, als vielfach gespaltenes Ich, aber auch als Person, persönlich, als alter Mann, als Autor, als Regisseur und Demiurg seiner Welt. Immer hat er auf der Bühne gestanden oder gesessen, seine Figuren beobachtet, stumm und aufmerksam, hochgradig nervös, manchmal böse auffahrend, manchmal mit ironischen Kommentaren. Er ist herumgewandert zwischen den Geschöpfen seiner Imagination, und seine bloße Anwesenheit hat sie zu Marionetten gemacht. Jetzt ist der Puppenspieler tot, und die Figuren ziehen selbst an ihren Fäden. Der Gastgeber fehlt — und die Geburtstagsgäste spielen weiter. Ein leerer Stuhl verweist auf Tadeusz Kantor — da hätte er gesessen. Und das Ensemble verspricht in einer vorher verlesenen Erklärung, man habe nichts verändert, nichts hinzugefügt und wolle in seinem Geiste... und erweist so dem abwesend-anwesenden Demiurgen seine Reverenz.

Aber Kantor wäre nicht Kantor, wenn er nicht vorgesorgt hätte. Und so kommt er denn als Bild über seine Schauspieler. Im linken Flügel des Triptychons sitzt mürrisch ein junger Mann, schwarzer Anzug, schwarzer Hut, weißes Hemd mit offenem Kragen, langer Wollschal, schwarz — das Selbstporträt des Autors. Tadeusz Kantor als junger Künstler — in der Ecke des Bildes lehnt nachlässig die Malerpalette, in deren Daumenloch ein Pinsel steckt. Das Selbstporträt benimmt sich wie ein Künstler — es schimpft und krakeelt wie ein junger, aufmüpfiger Avantgardist. Das Bild eines Bildes, das einer von sich selbst entwirft, dazu die Bildersprache des abendländischen Selbstporträts, beiläufig zitiert: Die Kunstwelt und die wirkliche Welt, sie fließen ineinander. Nur der Bilderrahmen gibt Halt und definiert die Situation.

Im gegenüberliegenden Flügel des Triptychons, ganz in Schwarz, das Gegenbild und Spiegelbild des Künstlers, das verbotene Objekt seiner Imagination: eine Dame im Reifrock, die Infantin aus einem Gemälde von Velazquez. Kühl beobachtet sie das Treiben zu ihren Füßen, lehnt distanziert im Bilderrahmen. Ab und zu schlägt sie den Rock zurück. Und dann ist da noch der Schatten des Autors — eine abgerissene Gestalt in Grau, auf dem Bett. Später huscht er über die Bühne — auch er ein Abbild, ein Schatten seiner selbst.

Die Welt zerfällt in Bilder. Später wird das Zimmer der Erinnerung zum Schlachtfeld werden. Aber nun beginnt, voilà, das Geburtstagsfest.

Die Gäste. Zum ersten Mal öffnet sich die Tür hinter dem mittleren Rahmen („die Türe, durch welche die Toten eintreten“, schreibt Kantor im Programmheft). Auftritt: die Familie. Die ewige, die schreckliche, die abwesende. Die lieben Verstorbenen tänzeln herein, angeführt vom „armen Mädchen“ — eine verlorene Gestalt in schmutzigem Weiß. Schreckhaft klammert sie sich an eine viel zu große Handtasche. Aus der könnte sie gerade gestiegen sein, und sie droht jeden Moment das arme Mädchen zu verschlingen. Nie ist es da, das arme Mädchen, irrt auf Abruf zwischen den anderen herum mit leerem Blick, manchmal ein Wort im Tangoschritt: „La tristesse.“ Und dann Mama, in Schwarz, mit einem kleinen Schleier über dem Hütchen, schlecht sieht sie heute aus, so blaß und faltig. Der Vater, polternd wie immer — und schnauzbärtig wie sein Doppelgänger. Onkel Stasio, der mit der Geige, weißt du noch? Und der alte Priester aus Wielopole, mit dem Barett und dem ewigen Kreuz, na ja, irgendwie hat er schon dazugehört. Die laufen aufgeregt hin und her, Papa und der Priester streiten sich, über Politik natürlich. Onkel Stasio kratzt einen Tango auf der Geige, dann kommt der Tisch, und sie können sich setzen — Mama ganz aufrecht, die Hände gefaltet. Achtung, ein Foto — die Familie lächelt im Bilderrahmen. Und das Bild vom Geburtstag fixiert sich in der Erinnerung. So war es immer. Mutter steht auf, füllt Vaters Glas, Vater hebt das Glas, trinkt, setzt das Glas ab, hebt es hoch über den Kopf, Mutter steht auf, füllt das Glas, Vater trinkt. Immer der gleiche Tango zum Geburtstag. Die Erinnerungsmaschine reproduziert immer die gleichen Bilder, mal Zeitlupe, mal etwas schneller, so daß die Figuren wie aufgezogen herumschnurren und gestikulieren.

Das familiäre Tableau des Tadeusz Kantor aus Wielopole — auch diese Figuren, die er wieder und wieder hervorgeholt hat aus seiner privaten Erinnerungsschicht und in immer neuen Konstellationen aufeinanderprallen läßt, auch dieses schnatternde, klappernde, kreischende, streitende, fuchtelnde, höchst lebendige Häuflein von Toten ist Teil seines Selbstporträts.

Und dann kommt der Krieg, der erste große. Die Familie purzelt aus dem Bilderrahmen, klammert sich an ihren Tisch wie Ertrinkende an ein schwimmendes Brett. Das Zimmer wird zum Schlachtfeld. Ein Zeitungsbote bringt Kriegsnachrichten. Soldaten, Stechschritt, Schüsse. Aus den Leinensäcken winden sich Verwundete, Tote. Tango vom Band — es folgt das Welttableau des Tadeusz Kantor. Die Toten stehen auf, die Verwundeten humpeln auf Krücken, drängeln und rutschen und krabbeln übereinander: ein Leiberhaufen im Bilderrahmen. Foto: der Krieg — in der Erinnerung. Herztöne vom Band, das Leben geht ja weiter. Die Kriegsopfer versammeln sich zum Reigen, tanzen, hüpfen, humpeln zu jiddischer Musik. Immer im Kreis, das Karussell dreht sich.

Die Welt als Krieg und die Familie ein verlorener Haufen — zwischen diesen Koordinaten spinnt die Erinnerung ihren Faden. Plötzlich wird etwas ins Schwarze gezogen, die Musik dröhnt überlaut, überlagert die Sätze, die Wortfetzen der Figuren. Dann fließt alles wieder gleichförmig dahin. Strom des Bewußtseins, Bilderflut der Erinnerung. Geburtstag — ach ja, all das Vergangene.

Und dann die Freunde. Auch sie bevölkern das Zimmer der Erinnerung. Jonas Stern, der Maler mit den zwei Geburtstagen, steigt aus einem schwarzen Kasten — eine Jammergestalt mit Judenstern. Vom Band erzählt der echte Jonas Stern die Geschichte vom Leichenhaufen im Ghetto — und Zbigniew Gostomski, der Schauspieler, erzählt sie nach auf der Bühne, mit offenem Mund, staunend, ungläubig. Das soll mir passiert sein? — scheint er zu fragen und wiegt einen Holzknüpppel in der Hand.

Und Wsewolod Meyerhold, der Theaterregisseur und -theoretiker, wird auf die Bühne gezerrt. Heißa, Geburtstag! Plötzlich stehen drei Herren vom NKWD auf der Bühne, grob und laut, ekelhaft leuchtet der rote Stern auf ihren Filzmützen, die Mäntel offen, die nackte Gewalt. Sie reißen das Selbstporträt aus seinem Rahmen und binden den jungen Mann auf einen Lattenrost. Ein Jahrhundertbild vom Künstler: da liegt er und windet sich, der Dichter Meyerhold, der Wurm unter den Stiefeln. Und während die Tschekisten ihn foltern und peitschen und verspotten, wird der Brief verlesen, den Meyerhold an Molotow geschrieben hat. Datum: 2. Januar 1940, kurz vor der Hinrichtung. „Ich war niemals ein Spion“, schreibt der Poet. Am Schluß liegt nur noch der Brief auf dem Lattenrost, ein Fetzen Papier, das langsam im Bühnendunkel verschwindet. Heute ist mein Geburtstag, meine Hinrichtung, adieu.

Die Bilder und die Illusion. Das alles zieht vorbei als wüster Totentanz der Erinnerung, als Danse macabre aus privaten Obsessionen und weltgeschichtlichem Zynismus. Vollkommen desillusioniert spielt der alte Mann aus Polen mit allen Mitteln der Illusionsmaschinerie — die Bilder bewegen sich, die Figuren steigen herab aus ihren Rahmen, das wirkliche Leben hält Einzug in die Welt der Bilder, erstarrt kurz, dann ertönt wieder der Tangorhythmus, und der Reigen zieht weiter. Ständig überlagern sich die Schichten, die Töne, die Geräuschfetzen — hat man eine Bedeutungsschicht isoliert, dann schiebt sich schon die nächste darüber, unscharf, laut lärmend, ein Fiebertraum im Karussell, ein irrer Zirkus, in dem sich alles immer schneller dreht! Musik! Der Trauermarsch aus der Eroica von Beethoven... nein, ein Cancan von Jacques Offenbach... dann wieder: der Trauermarsch.

Man kann jede Bewegung, jede Figur mit Bedeutung aufladen — alles ist Zitat, alles erinnert an Bilder von Bildern, die man schon gesehen zu haben glaubt, an Otto Dix, an Breughel, an Georg Grosz — es ist sinnlos. Jedes Bild löscht jedes andere aus und verschwindet dann selbst im Dunkel der Erinnerung. Unser Jahrhundert? Ein Blutsturz. Soziale Bewegungen? Leeres Gewäsch, Macht und Gewalt, Generalsmasken und Parteisekretäre. Irgendwann rollt ein Denkmal vorbei, im Reigen der Gespenster, der Soldaten, Huren und Anarchisten. Der siegreiche Prolet, die Faust zum Arbeitergruß geballt, sein Mantel in das gleiche schmutzige Grün getaucht wie der Sockel, auf dem er steht. Um ihn herum drei enge Käfige aus der Menagerie, in jedem ein tobender Soldat, fauchend, beißend, mit den Händen die Gitterstäbe umklammernd. Und die Käfige drehn sich im Kreis. „Der Schrecken des Krieges und der Erde mischen sich im Zirkus“ (Tadeusz Kantor).

Epilog. Adieu. Als alles vorbei ist, da ist er einen Moment lang wirklich auf der Bühne. Tadeusz Kantor, ein leerer Stuhl. Der Zug der Akteure hat die Bühne verlassen, die letzten Gestalten seines Pandämoniums drängen heraus, stumm, erschöpft, diszipliniert. Und die Objekte stehen verlassen da — seine Objekte, schmutzige, verlorene Teilchen unserer hoffnungslosen Weltmechanik. Die Gitterkäfige, die Haufen Holzkreuze, wirr durcheinander, wie ein alter Friedhof, eine Rednertribüne. Verlassen stehen da die Maschinengewehre, die absurden Tötungsmaschinchen, leer die Panzer und die Podeste. Einsamkeit, ein Hauch von Kälte. Und Stille, endlich Stille. Vorbei die Flut der Bilder, zu Ende der Reigen der Figuren mit ihrem ewigen Gewäsch, ihrer grinsenden Freundlichkeit, ihren zwanghaften Ticks und Wiederholungen. Nur noch die Objekte: das Depot, das arme Zimmer der Erinnerung.

So muß es sein: Ein Schritt, ein Wort noch, und mitten im Satz bricht alles ab. Und raus bist du. Und kehrst nie mehr zurück hierher. Adieu, Tadeusz Kantor. Heute war dein Geburtstag.

Tadeusz Kantor: Aujourd'hui c'est mon anniversaire. Teatr Cricot 2. Koproduktion Festival d'automne Paris, Centre Pompidou, CRT Franco Laera Mailand, Ville de Nimes, ThéÛtre Garonne Toulouse und des Hebbel-Theaters Berlin, wo das Stück vom 28.2. bis zum 3.3. sowie vom 5. bis zum 10.3. zu sehen sein wird.