: Schlagworte statt Realismus
■ Der Appeasement-Vorwurf — ein Bumerang DEBATTE
Es ist ein klassisches Merkmal der Kriegspsychologie, also der Legitimierung eines Krieges im Seelenhaushalt der Menschen, daß die Kriegslage keinen inneren Widerstand tolerieren darf. Damit ein solcher nicht zur Entfaltung kommt, besteht die Nachrichtensperre über zivile Opfer der Bombardements in den Irak. Bisher haben wir nur tote Enten im Ölmeer gesehen. Und damit bereits entfalteter Widerstand wieder zerstreut wird, hat nahezu zeitgleich mit der Eröffnung der Kriegshandlungen die Kampagne gegen die Friedensbewegung begonnen.
Anfang der 80er Jahre, auf dem Höhepunkt der Kampagne gegen die Stationierung von Mittelstreckenraketen, versuchte der seinerzeitige CDU-Generalsekretär Geißler die Friedensbewegung mit dem Vorwurf auszukontern, der Pazifismus habe Hitler möglich gemacht. Aber immerhin ging noch Empörung über Geißlers Geschichtsklitterung durch das Land. Der Unterschied zu heute ist, daß die Mobilisierung des München-Traumas von 1938 gegen die Friedensbewegung bis in ansonsten unverdächtige Reihen der taz reicht.
Wer in die Geschichte greift, muß dies tief genug tun, um nicht nur Versatzstücke in der Hand zu haben. Die Appeasement-Politik mit Hitler war offenkundig verhängnisvoll. Aber Chamberlain und Daladier waren weder Pazifisten, noch gehörten sie zu einer spontanen Friedensbewegung, sondern sie versuchten viel zu lange Hitler in ihr außenpolitisches Interessenspiel zu integrieren. Am 1. September 1939 waren sie damit endgültig gescheitert. Wenn der Appeasement-Vergleich für den Golfkonflikt schon herangezogen wird, dann wird er zwangsläufig zum Bumerang für die Köpfe, die sich heute moralisch hoch über die Friedensbewegung erheben wollen: Die Appeasement-Politiker von heute heißen bei nur etwas näherem Hinsehen Bush und Mitterrand, Kohl und Genscher, Thatcher und Andreotti. Ihre Politik scheiterte endgültig am 2. August 1990.
Zuvor galt es während des irakisch-iranischen Krieges sogar als Tabu, Irak als Aggressor zu bezeichnen — Genscher holte sich blaue Flecke, als er dies einmal vorsichtig anmerkte. Was in britischen und französischen Augen Hitler gegen den Bolschewismus war, war Saddam Hussein gegen den iranischen Fundamentalismus. Die Ausrede, man habe nicht erkennen können, zu welcher Gestalt sich dieser auswachse, zieht spätestens seit dem Giftgaskrieg gegen Kurden und Iraner nicht. Aber der Bau einer libyschen Giftgasfabrik war unseren Regierungen alarmierender als der irakische Einsatz im Mittleren Osten — noch im Januar 1989 wurde der Irak mit der Zusicherung an den Tisch der Pariser Chemiewaffenkonferenz gebeten, daß er für seinen Völkerrechtsbruch nicht verurteilt werde. Und dies, obwohl durchaus erkennbar war, von welchem Typus Saddam Hussein ist — vorsorglich hatten die Israelis schon zu Beginn der 80er Jahre die von Frankreich gelieferte nukleare Reaktoranlage vor ihrer Fertigstellung ausgeschaltet. Bleiben wir bei dem Appeasement-Vergleich der Jahre 1938/39 und 1990/91, so kommen wir gleichzeitig nicht umhin, einen deutlichen Unterschied an politischer Kultur zu erkennen: Chamberlain und Daladier waren anschließend politisch erledigt, während den Gescheiterten von heute auch noch ihre auftrumpfende und verlogene Selbstgerechtigkeit abgekauft wird und sie ihren verhängnisvollen politischen Fehlern der Vergangenheit noch weitere hinzufügen dürfen.
Offenkundig versagen gegenwärtig nicht nur die Selbstheilungskräfte der Demokratie, sondern auch die Kräfte des analytischen Verstandes. Dazu gehört, wie seit dem Kriegsbeginn die andere Möglichkeit einer zweifellos notwendigen Eindämmung des Iraks systematisch verdrängt wird. Kriegsausbrüche lösen nicht nur eine dann kaum noch zu stoppende Eskalationsautomatik aus, sondern auch eine seelische Enthemmung ins uferlos Martialische. Die Bereitschaft zu tödlichen Opfern verträgt kein schlechtes Gewissen. Was vor dem 17. Januar immerhin als Möglichkeit erörtert wurde, ist inzwischen nahezu vergessen, wenn es um einen Waffenstillstand geht: die Möglichkeit des Embargos. Iraks Diktator wird nicht nur zum militärischen Wundermann gemacht, sondern auch noch zum ökonomischen — ganz so, als glaube man selbst dessen Propaganda, Allah sei mit ihm.
Unbezweifelbar hat der Irak nur 17 Millionen Einwohner und nur die Hälfte des Bruttosozialprodukts von Belgien. Er hat einen achtjährigen Abnutzungskrieg hinter sich und war im Sommer 1990 schon pleite. 90 Prozent seiner Einnahmen kamen aus dem Ölverkauf, und seit August konnte er damit kaum noch einen Dollar erlösen. Seine industriellen Tätigkeiten kamen in den letzten Monaten schon mehr und mehr zum Erliegen. Nach allen denkbaren ökonomischen Gesetzmäßigkeiten konnte er und kann er das Embargo niemals durchstehen, selbst bei einigen Löchern. Alle diese Erkenntnisse zählen offenbar nicht.
Kein Wort darüber, daß der Ruin der irakischen Wirtschaft auch den politischen Systemzerfall einschließlich des Zerfalls der Militärmaschinerie nach sich ziehen muß — obwohl genau das in Osteuropa ein Jahr zuvor geschah und es im Irakfall nicht eine Frage von Jahren, sondern von Monaten war. Und kein Wort darüber, daß ein Waffenstillstand bei gleichzeitiger Fortsetzung des Embargos dessen Erfolg doch nur beschleunigen kann — angesichts der erfolgten Bombardements, die ein Gutteil der ökonomischen Infrastruktur schon zerstört haben. Waffenstillstand als psychologischer Sieg Saddam Husseins? Die Gegenfragen: Was könnte er damit anfangen? Werden seine jetzigen psychologischen Siege in der arabischen Bevölkerung übersehen?
Ein Waffenstillstand nütze nichts, wird behauptet, weil der Irak das Feuer nicht einstellen würde. Aber niemand hat gefordert, daß man den Irak alleine schießen lassen soll. Instandsetzung und Erholung der irakischen Armee bei Waffenstillstand? Die Gegenfrage: Mit welchen Ersatzteilen will er das noch tun?
Es war schon vor dem Kriegsausbruch nicht mehr die Frage, ob Saddam Hussein verliert. Im Mittelpunkt steht die Frage, wieviel wir alle zusätzlich verlieren. Der Krieg soll das Exempel statuieren, daß die Welt weiterhin militärische Stärke brauche; daß gegen neue Feinde neue Doktrinen und mit ihnen neue Waffen notwendig seien; daß anderen der Besitz von Massenvernichtungswaffen gewaltsam ausgetrieben werden könne, aber man selbst solche Waffen selbstverständlich behalten dürfe; daß Menschenleben je nach Region, Religion und Volkszugehörigkeit auch weiter unterschiedlich zu zählen sind; daß man sich um die soziale Lage der Menschheit nicht kümmern muß, solange man notfalls militärischen Ausgleich besorgen kann. Was am Golf stattfindet, ist Krieg als Prima statt als Ultima ratio. Er zerstört gezielt die Chancen und neuen Hoffnungen, die die Überwindung des Ost-West-Konfliktes kurz zuvor eröffnet hat. Wir denken, daß es diese Erkenntnisse sind, die die neue Friedensbewegung auf die Straße treibt — und nicht die Blauäugigkeit gegenüber Diktatoren, die unsere Regierungen gegenüber Saddam Hussein hatten und gegenüber Assad und anderen mehr haben.
Als Kuwait am 2. August okkupiert wurde, brauchte niemand auf die Straße zu gehen, weil man mit der Verurteilung des Iraks durch die politischen Repräsentanten einig war; als der Krieg bevorstand und begann, mußte man es tun, weil man diesen Krieg sehr realistisch als Illusion der Gestrigen einschätzt. Schlagworte wie „Antiamerikanismus“, „Pazifismus“, „Moralismus“ statt Realismus sind demgegenüber hohl und knüpfen an eine Vergangenheit an, deren Fortschreibung keine Zukunft hat. Als Parlamentarier und Parteipolitiker ist mein politisches Arbeitsfeld nicht das der Friedensbewegung — ein Grund mehr, ihre Notwendigkeit zu unterstreichen und ihr Mut zuzusprechen. Ihre Teilnehmer tun Besseres als die etablierte Politik ihnen vormacht, deren Irrtümer sie früher erkannt haben als die überwältigende Mehrheit ihrer Kommentatoren. Dr. Hermann Scheer
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