Juden hinter Mauern und Stacheldraht

■ Sowjetische Juden leben am Rande der Hauptstadt Berlin, abgeschieden von der Bevölkerung

Berlin. Am Rande Berlins, 30 Kilometer vom Stadtzentrum entfernt, liegt das Aufnahmeheim für sowjetische Juden Hassenwinkel. Hinter Mauern und Stacheldraht, isoliert von den angrenzenden Häusern, haben die Flüchtlinge aus der Sowjetunion in einer ehemaligen Kaserne ihre erste Unterkunft bekommen. Tag und Nacht bewachen zwei Polizisten das Objekt. Zwischenfälle habe es bislang jedoch noch nicht gegeben, berichten die Uniformierten. Besucher werden an der weißroten Schranke vorbei bis zur Rezeption vorgelassen. „Wir haben strengste Anweisung, in der augenblicklichen Situation keinerlei Informationen zu geben“, lautet die kühle Antwort des Pförtners.

Drei Monate ist es her, seit Michail, Angela und Swetlana hier ankamen. Sie stammen aus Kiew, sind Mitte zwanzig und haben ihre Heimat verlassen, weil sie in Deutschland bessere Lebensbedingungen erwarten. „Ich will nicht mehr unter einer Kommunistenherrschaft leben“, sagt Michail knapp zur Begründung seiner Entscheidung. Es ist Ökonom. Zu Hause hat er alles zurückgelassen, seine Eltern, sein Auto, seine Wohnung. Zusammen mit seiner Frau kam er Anfang November auf dem Flughafen Schönefeld an. Von dort fuhren sie zur „Beratungsstelle für jüdische Einwanderer“, die sich bis zum Ende vorigen Jahres in der Ostberliner Otto-Grotewohl-Straße befand. Seine Bekannten, die schon seit Jahren in West-Berlin wohnen, hatten ihm davon geschrieben.

Nach rund einer Stunde Wartezeit lief die Abfertigung in der Beratungsstelle recht zügig. Das junge Ehepaar bekam ein paar Informationen, mehrere Formulare und die Wohnheimzuweisung nach Hessenwinkel. Auf einem kleinen Zettel stand in Russisch die Wegbeschreibung dorthin: S-Bahn bis Wilhelmshagen, dann ein paar Stationen mit dem Bus. Finden mußten sie es allein.

Je Ehepaar ist im Aufnahmeheim ein Zimmer vergeben. Die Einrichtung ist schlicht: zwei Betten, ein Schrank, Stühle, ein kleiner Tisch und ein Kühlschrank. Das Zimmer sei knapp 20 Quadratmeter groß, meint Michail. Auf jeder Etage befänden sich rund 20 Zimmer. An finanzieller Unterstützung erhält ein Erwachsener 350 Mark monatlich. Davon muß er sich selbst verpflegen. Für alle Bewohner der Etage steht eine kleine Gemeinschaftsküche zur Verfügung.

Das Verhältnis unter den Flüchtlingen sei, wie Michail sagt, „normal“. Alle haben das gleiche Los: Warten. Aussicht auf eine eigene Wohnung besteht vorerst nicht. Angela und Swetlana rechnen mit Jahren. Auch auf eine Anstellung wagen sie kaum zu hoffen. In Kiew waren sie als Schneiderinnen in einem Atelier tätig. „Zunächst müssen wir erst einmal Deutsch lernen“, sagen sie. Deutschunterricht wurde für sie an einer Schule in Köpenick organisiert. Doch der findet nur zweimal in der Woche für je drei Stunden statt.

Kontakt mit Deutschen haben die jungen Flüchtlinge nicht. „Die wollen nichts mit uns zu tun haben“, meinen die drei aus Kiew. Es sei schwer, Kontakte aufzubauen, zu groß sei die Sprachbarriere. So bleiben sie unter sich, suchen höchstens Anschluß an Landsleute, die schon längere Zeit in Deutschland leben. Den Tag verbringen sie in der Stadt. Berlin läßt sich in drei Monaten noch längst nicht erschließen. Michail beklagt, daß sie ganz auf sich gestellt sind, wenn sie die Stadt kennenlernen wollen. Keine Stadtrundfahrten, keine Exkursionen werden angeboten.

An den Abenden macht sich im Wohnheim die Langeweile breit. Zum Ausgehen reiche das Geld nicht, und auf der Etage gebe es keinen Fernseher, sagt Michail. So sitzen die jungen Leute auf den Zimmern zusammen, unterhalten sich. Wie bekommt man am schnellsten eine Wohnung, wird wohl die meistgestellte Frage sein. Sicher werden sie auch an ihr Heimatland denken. Viele spielen mit dem Gedanken, irgendwann Familienangehörige nachzuholen. Das Wohnheim in Hessenwinkel soll für sie nur eine Übergangslösung sein. Doch wie lange der Übergang dauern wird, weiß niemand zu sagen. Heiko Krebs/epd