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Frankreichs geheime zentralistische Sehnsucht

Nach neun Jahren tritt die Dezentralisierung auf der Stelle: zu viele Entscheidungsebenen und mächtige Lokalfürsten blockieren praktische Politik vor Ort — und die Weiterführung der Regionalisierung, ohne die das Land im Binnenmarkt ohne Chance bliebe  ■ Aus Paris A. Smoltczyk

Der Deputierte Thouret hatte ganze Arbeit geleistet. Nach nächtelangen Messungen, Zählungen, Erwägungen präsentierte er der Nationalversammlung am 29. September 1789 eine neue, aufgeklärte Raumordnung: Ganz Frankreich würde ab sofort in 81 Zonen aufgeteilt, deren jeweils zentralen Orte jeder Bewohner in einer Tagesreise zu Pferde erreichen können würde. Die so geschaffenen „Departements“ würden die alten Provinzen des Königreichs ersetzen, so daß kein Provinzgeist mehr der Herausbildung einer einheitlichen Nation im Wege stehen würde.

Gesagt, getan. Die Provinzen Bretagne, Auvergne, Provence etc. wurden aufgelöst, und die mittlerweile 96 Departements stehen seither alle unmittelbar zu Gott, das heißt zur Nationalregierung in Paris — und dies, obwohl kaum jemand mehr zu Pferde reist. Ein Pendant zu den deutschen Ländern gibt es nicht, und darin sehen nicht wenige eines der großen Handicaps Frankreichs im europäischen Binnenmarkt (siehe Kommentar).

Die Dezentralisierungsreform der Sozialisten von 1982 ist auf halber Strecke steckengeblieben. Zwar wurden gewählte Regionalräte eingerichtet, die sich um Weiterbildung und Regionalförderung kümmern durften — aber über keine ausreichenden Mittel verfügten: Das Budget der Region Languedoc-Roussillon beispielsweise ist nur halb so groß wie der Haushalt ihres Departements Hérault.

Nach wie vor wird, im Gegensatz zu den deutschen Ländern, die Politik in den Bereichen Bildung und innere Sicherheit in den Pariser Ministerien entschieden. Wenn eine Uni in Aix einen Hörsaal bauen will, braucht sie dazu die Genehmigung des Pariser Erziehungsministers. Wen wundert es da, daß die derart ferngesteuerten SchülerInnen und StudentInnen in regelmäßigen Abständen auf die Straße gehen (und dann direkt vom Staatspräsidenten persönlich empfangen werden müssen, um den Konflikt durch Gottesurteil zu schlichten...).

Jacques Chiracs neogaullistische RPR hatte in der Dezentralisierung von 1982 das Ende des Nationalstaats gewittert. Heute wirft er den Sozialisten vor, nicht genug dezentralisiert zu haben: „Die Zuständigkeiten der lokalen Körperschaften sind erweitert worden, aber diejenigen des Staates nicht in gleichem Maße neu bestimmt worden. Die staatliche Verwaltung hat unverändert ihr gesamtes Personal beibehalten, so muß es zur Konkurrenz (zwischen Zentralstaat, Region und Departement) kommen“, erklärte der Pariser Bürgermeister auf den Generalständen der Opposition im Mai 1990.

Dabei sollte nicht unerwähnt bleiben, daß sich 20 der 22 Regionen Frankreichs zur Zeit in den Händen der Opposition befinden. Und die wollen sich von der sozialistischen Zentrale nicht ins Handwerk pfuschen lassen.

Dennoch ist unbestritten, daß die Reform von 1982 zu einer Doppel- und Dreifachherrschaft im Staate Frankreich geführt hat. Denn die Region ist den Departements bei-, aber nicht übergeordnet worden. Bei jeder Entscheidung sind Paris, Region, Departement und Gemeinden beteiligt — eine zwar basisdemokratische, aber zu komplexe Struktur, wie die Kritiker meinen. Jegliche Initiativen würden in dem Kompetenzgeknäuel stecken bleiben und zu guter Letzt, wie in alten Zeiten, durch die Methode der Seilschaften vorwärtsgebracht.

Auch die Bürgerrechtsinitiative „SOS-Racisme“ klagte auf ihrem letzten Kongreß in Longjumeau über das „Desengagement“ des Zentralstaats: „Die Dezentralisierung hat Fürstentümer mit so mächtigen Potentaten geschaffen, daß die Präfekten den Bürgermeistern die Ausführung von Projekten überlassen müssen. Bürgermeistern, deren platteste Wahltaktik de facto zu einem versteckten Immobilismus führt.“ Da klingt die heimliche Sehnsucht nach dem guten König durch, nach dem fortschrittlichen Präfekten, der mit aller Macht dem Provinziellen und Partikularen auf die Sprünge zu helfen versucht.

Linke Urbanisten wie der ehemalige Studentenführer Roland Castro fordern für den Großraum Paris bereits eine neue Stärkung der jakobinischen Instrumente. Ein „Super-Bürgermeister“ mit präsidialen Befugnissen müsse her, um die Aufsplitterung der politischen Macht unter siebzig Gemeinden zu überwinden. Premierminister Michel Rocard hat die Reorganisation des Pariser Raums zu einer der Hauptaufgaben seiner Amtszeit gemacht. Das Ungleichgewicht zwischen dem reichen, bürobestückten Westen und der Ghettolandschaften im Norden und Osten soll abgebaut werden... Aber was tun, wenn der neogaullistische Bürgermeister von Neuilly seinem kommunistischen Amtskollegen von Montreuil keineswegs unter die Arme greifen möchte und keiner, schon gar nicht ein sozialistischer Innenminister, ihn dazu zwingen kann? Das Dossier „Region Ile de France“ geistert seit zwei Jahren wie ein fliegender Holländer durch die Amts- und Ratsstuben, zur ewigen Unrast verdammt.

Die Reform von 1982 stärkte die Position großer Mittelstädte wie Grenoble, Montpellier, Metz oder auch Lyon, wo sich prompt mächtige Lokalfürsten etablierten, die sich von ihren Parteivorständen nichts mehr gefallen zu lassen brauchen. Wenn sich in den Altparteien Dissidenz gegen den verkrusteten Diskurs der Pariser Mandarine zu regen beginnt, dann sind stets lokal verankerte jüngere Provinzpolitiker im Spiel, wie der Grenobler Alain Carrignon oder Lyons Bürgermeister Michel Noir — zwei „Enkel de Gaulles“, die inzwischen den RPR verlassen haben.

Die nationale Raumordnungsbehörde DATAR steht den munteren Aktivitäten dieser Lokalfürsten durchaus zwiegespalten gegenüber (siehe Interview). Sie befürchtet einen „Ligen-Effekt“ wie in Italien: die reichen Regionen Elsaß, Rhône- Alpes und Haute-Normandie werden ihren Nutzen aus einer Regionalisierung ziehen. Aber was ist mit dem schwarzen Loch in Frankreichs Mitte, dem „strukturschwachen“ Zentralmassiv? Gebeutelte Regionen wie die Auvergne werden bei dem fröhlichen Wettbewerb der „Euregionen“ kaum mithalten können.

Girondistische Politiker, die sich in allen Parteien finden, halten dagegen, daß auch eine nationale Strukturpolitik auf überschaubare Einheiten angewiesen ist. Es sei leichter, zwischen 22 Regionen auszugleichen, als zwischen 96 Departements. Die Region wäre das richtige Medium, in dem sich der von „SOS-Racisme“ beklagte Graben zwischen den legitimen lokalen Interessen und der Notwendigkeit übergreifender Raumplanung auflösen ließe.

Rückenwind für die kleinen Einheiten spüren die Föderalisten ausgerechnet durch die große, die europäische Einigung. Charles Millon, der liberal-konservative Präsident der Region Rhône-Alpes: „Wir müssen uns klar machen, daß sich die europäische Konkurrenz großenteils auf der Ebene der ,höheren städtischen Funktionen‘ – (Forschung, Bildung, Wirtschaftsförderung, Infrastruktur; d. Red.) abspielen wird. Frankreich wird diese Konkurrenz nur angehen können, wenn es seine Städte durch eine aktive Regionalwirtschaft unterstützt.“ Ohne Regionen werde Frankreich im „Europa von 1993“ keine Chance haben. Eine europaweite Studie zählte kürzlich zwanzig Städte „europäischer Dimension“ für die Bundesrepublik, acht für Italien und gerade mal drei für Frankreich (Eurotaz vom 5. Juli 1990). Paris läßt keine Göttinnen neben sich zu.

Fran¿ois Mitterrand hat die Einrichtung von überregionalen „Föderationen“ in die Diskussion gebracht, die es mit den deutschen Ländern aufnehmen könnten, ohne allerdings zu präzisieren, welche zentralstaatlichen Befugnisse er aufzugeben bereit wäre. Aber wie die zweite Phase der Regionalisierung auch aussehen wird — in jedem Fall wird politische Macht von der Zentrale, aber auch von der kommunalen Ebene auf die Regionen übertragen werden müssen. Und genau dies ist nach Ansicht leidgeprüfter Raumplaner auch der Grund, weshalb es mit der Reform noch einige Jahre dauern wird. Denn keine Regierung will es sich mit den sage und schreibe 36.433 Bürgermeistern und Bürgermeisterinnen verderben, die zu jeder Revolte gegen die Zentrale bereit sind.

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