Rückkehr der Innenpolitik

■ Drastischer Anstieg der Arbeitslosenzahlen in den ostdeutschen Ländern KOMMENTARE

In den Ländern der ehemaligen DDR seien inzwischen fast Verhältnisse entstanden wie in der Weimarer Republik, meinte die stellvertretende Vorsitzende des DGB, Ursula Engelen-Kefer, angesichts der neuesten, erschreckenden Arbeitslosenzahlen in Ostdeutschland. Was sie damit, außer ihrem Bedürfnis nach zusätzlicher Dramatisierung eines zweifellos dramatischen Vorgangs, ausdrücken wollte, hat sie nicht ausgeführt. Aber der seit einigen Wochen auch in anderem Zusammenhang so beliebte Gebrauch historischer Analogien dient ja in den seltensten Fällen dazu, eine detailgenaue Sicht von Gegenwartsproblemen zu fördern. In diesem Fall geht es offensichtlich um die Mobilisierung jener abgelagerten Ängste, die sich mit der Massenarbeitslosigkeit in der Weimarer Zeit und der nachfolgenden faschistischen Machtergreifung in Deutschland verbinden. Nur hat das, was derzeit in den ostdeutschen Ländern passiert, damit so gut wie nichts zu tun. Oder will die DGB-Politikerin etwa behaupten, bei einem weiteren Anstieg der Arbeitslosenzahlen drohe eine soziale Explosion östlich der ehemaligen innerdeutschen Grenze? Doch wohl kaum.

Es bedarf wahrhaftig keiner künstlichen Dramatisierung, um in den neuesten Zahlen der Nürnberger Arbeitslosenversicherung ein politisches Alarmsignal zu erkennen. Die ostdeutschen Bundesländer bewegen sich mit beschleunigtem Tempo auf den tiefsten Punkt ihrer Umstrukturierungskrise zu. Während immer mehr Betriebe, die sich bisher noch mittels Kurzarbeit über Wasser gehalten hatten, ganz oder teilweise stillgelegt werden, haben die vielbeschworenen Kräfte des Aufschwungs immer noch nicht gegriffen. Wie sollten sie auch, schließlich ist der Neuaufbau von Industriekapazitäten nicht in einem halben oder einem ganzen Jahr zu bewältigen. Und solange die ostdeutschen Länder und Gemeinden nicht mit nennenswerten Investitionsmitteln ausgestattet werden, kann selbst das traditionelle Konjunkturzugpferd Bauindustrie nicht in Gang kommen. So berechtigt die Kritik an der schleppenden Arbeitsweise der Treuhand sein mag, die Probleme liegen tiefer und wären auch durch Beschleunigung der Verfahren nicht beseitigt. Viel schwerwiegender ist, daß es für die Wirtschaft Ostdeutschlands keine politisch abgestützten Übergangstrategien gibt. So wie es aussieht, werden die Menschen in den neuen Bundesländern die Talsohle der wirtschaftlichen Depression in ganzer Länge durchschreiten müssen. Nach den Wochen im Zeichen der Golfkrise ist dies die politische Botschaft der jetzt veröffentlichten Arbeitslosenzahlen. Sie signalisieren die Rückkehr der Innenpolitik im vereinten Deutschland. Martin Kempe