Frankreichs Flußschiffer und der harte Mais im Osten

Alles fließt — nur die Schiffer von Paris sitzen bald auf dem Trocknen/ Die EG will Überkapazitäten abbauen und die Aufträge bleiben heute schon aus  ■ Aus Paris Alexander Smoltczyk

Gegenüber dem Pariser Leichenschauhaus am Quai d' Austerlitz steht das Haus der Seine-Schiffer. Beide Korporationen brauchten den Fluß: die Autopsisten, um ihr Material zu kühlen, die Schiffer, um das ihre zu transportieren. So war es schon immer — doch so wird es bald nicht mehr sein.

Dreimal die Woche um halb drei ist Flußschifferbörse am Quai d' Austerlitz. Dann werden die Aufträge verteilt. Hier mal 393 Tonnen Sand die Marne 'rauf bis zur Disneyland-Baustelle, dort mal 250 Tonnen Hartweizen von Tolbiac bis Heyen. Mancher Schiffer liegt lange vor Anker und kommt nur, um KollegInnen zu treffen. Man kennt sich und ist miteinander versippt, denn Pariser FlußschifferInnen heiraten größtenteils untereinander. Als Mitgift gibt es eine Schute. Aber da sind auch einige Holländer, Belgier und Deutsche. Denn im freien Flußschiffahrts-markt wird nach dem Grundsatz gehandelt: „Jedem die Seine“. Und gerade das ist das Problem.

Nehmen wir die „Loyola“, 38 Meter lang, Deutz-Dieselmotor, zwei Kabinen, eine Kombüse, Heimathafen Straßburg. Seit zwei Wochen liegt sie vor Austerlitz, und Jean Stein geht dreimal die Woche zur Frachtbörse. Meistens vergeblich: „Die unabhängigen Schiffer gehen vor die Hunde. Der Staat möchte uns loswerden und unterstützt die großen Firmen. Es gibt einfach keine Aufträge mehr für uns, nur noch kleine Ladungen.“

Wie die folgenden: 237,5 Tonnen Gerste müssen bei den Mühlen von Tolbiac abgeholt und die Marne bis nach Reims gefahren werden. Drei Tage Fahrt insgesamt. Bei 50,71 Francs pro Tonne macht das gute 12.000 Francs, abzüglich Diesel, Steuern, Reparaturen, Versicherung, Schleusengebühr, Internatskosten für die Kinder etc. Ein Schiffer verdient im Monat etwa 5.000 Francs. Das ist weniger als der gesetzliche Mindestlohn. Jean Stein nimmt die Ladung an. Nach zwei Wochen hat man keine Wahl. Wie es nach dem Auslöschen in Reims weitergeht, weiß er nicht. Mal sehen, was da angeboten wird.

Rund 1.000 freie FlußschifferInnen gebe es noch in Frankreich, sagt Madame Roudil, die Leiterin der Pariser Frachtbörse. Aber nicht mehr lange. Denn da gibt es die EG-Direktive 1101/1102 vom 27. August 1989, wonach die Mitgliedsländer 10 bis 15 Prozent ihrer Binnenflotte verschrotten sollen. Das Schiffeversenken sei notwendig, weil sich besonders auf dem Rhein zuviele Kähne tummeln, wodurch die Frachtpreise sanken. In Frankreich ließen die Behörden vor allem die unabhängigen SchifferInnen in Frührente gehen, die großen Gesellschaften sollten angesichts der europäischen Konkurrenz verschont bleiben.

Doch das ist es nicht allein. Früher gab es viele Exportaufträge in die Bundesrepublik. Mais zum Beispiel. Der wurde von den großen Silos im Marne-Tal über Seeland zum Rhein geschippert. „Aber jetzt haben sie winterfesten Mais entwickelt und brauchen keinen mehr zu importieren“, sagt Madame Roudil.

Die Börse am Quai d' Austerlitz sei, so ist zu erfahren, den Wirren der Weltwirtschaft unmittelbar ausgesetzt. So hatte die Sowjetunion im letzten Herbst große Mengen von Weizen bestellt. Dann wurde Frankreich durch das Absacken des Dollarkurses von den USA und Kanada ausgestochen. Für die Seine-Schiffahrt blieb wieder mal kein Körnchen übrig. Und der Staat? „Ach, der Staat...“, seufzt Madame Roudil.

Seine-abwärts liegt das Städtchen Conflans-Sainte-Honorine, das Rom der französischen Flußschiffahrt sozusagen, mit einem Museum und einer schwimmenden Kirche. Der Bürgermeister von Conflans galt als ein erklärter Freund der Flüsse, ist selbst Segler und nebenbei auch Premierminister der Republik. An der Flußpolitik der Regierung hat Michel Rocard — zur großen Enttäuschung von Madame Roudil und den Seine-Schiffern — allerdings nichts geändert: „Wir sind gescheitert, wurden aufgegeben, um nicht zu sagen: verraten. Frankreich hat die Option Straße gewählt“, klagt dumpf ein Aushang der „Nationalen Schifferkammer“. Nur fünf Prozent der Lasten werden in Frankreich auf dem Wasser transportiert. In der BRD sind es 25 Prozent, in Holland sogar 60 Prozent.

Woran liegt's? Das Kanalsystem stammt zum überwiegenden Teil noch aus der Zeit des großen Napoleon und wurde seither kaum instandgehalten, geschweige denn erweitert. Schiffe mit mehr als 600 Tonnen Stauraum können nur auf der Seine und dem Rhein fahren, in den Kanälen würden sie steckenbleiben.

Der Transportminister Georges Sarré möchte deswegen das gesamte Binnenschiffahrtssystem neu organisieren. Sämtliche Kanäle, Schleusen, Hubwerke, Registrierbüros und Frachtbörsen werden in Zukunft einer einzigen Behörde unterstehen, der VNF (Voies Navigables de France). Die treibt dann auch sämtliche Abgaben und Passierrechte ein, aus denen der Unterhalt und Ausbau des Kanalsystems bestritten werden soll. „Wir werden auch indirekte Nutzer an den Kosten beteiligen“, sagt Monsieur Valentin vom „Nationalen Schiffahrtsbüro“. Der Strommonopolist EDF etwa werde 300 Millionen Francs zahlen müssen. In diesem Jahr will das Büro etwa 400 Millionen Francs einnehmen. Viel zu wenig, um an jene Kanalverbindung zwischen Rhône und Rhein zu denken, von der Frankreichs Schiffer seit Urzeiten träumen, aber genug immerhin, um den Oberlauf der Seine instandzuhalten.

Gegenüber dem Pariser Leichenschauhaus liegt das Haus der Flußschiffer. Zwischen beiden fließt die Seine. „Fluctuat nec mergitur“, so steht es im Pariser Stadtwappen, „sie fließt, aber sie vergeht nicht“. Schön wär's. Für die Flußschiffer der Stadt bleibt nur ein stilles Tröpfeln, dann sitzen sie auf dem Trockenen.