Formverlust

■ Die politischen Eliten versagen angesichts der Talsohle, in der sich die Ex-DDR befindet

Spätestens seit letztem Sommer darf man vom kompletten Formverlust der deutschen politischen Eliten reden. Man erinnere sich: Während die Regierung behauptete, die deutsche Einigung aus der Portokasse finanzieren zu können, operierte die Opposition mit einer Fortführung des bloßen Wahlkampfes unter dem Schlachtruf: „Steuerlüge!“. Unterdessen wußte die Bevölkerung längst, daß alles seinen Preis hat und vor allem sie zu zahlen haben würde — nicht aber erfuhr sie von Regierenden oder Opposition, wofür denn nun zu zahlen sein würde. Investition in ein künftiges blühendes Ostdeutschland? Oder jahrelange Unterstützung arbeitsloser Hungerleider? Letzteres — manche ahnten es, jetzt wissen wir's.

Nur den Ministerpräsidenten Biedenkopf und Stolpe ist zu verdanken, daß der Golfkrieg nicht vollständig aus dem Bewußtsein verdrängte, daß die fünf neuen Bundesländer kurz vor der Talsohle stehen. Keine der eilfertig herbeigebeteten Marktkräfte konnte bislang greifen: Private Anreize funktionieren nicht, solange es noch kein Privateigentum gibt. Die öffentliche Hand als Investor fällt flach, weil Kommunen und Länder finanziell ohnmächtig sind. Demokratie hat einen schlechten Stand, solange ihr Rückgrat, Verwaltungen und Justiz, so gut wie vollständig fehlt. Westlichen Investoren geht die Neigung völlig ab, im Winterschlußverkauf der DDR ihr Schnäppchen zu machen. Der Ostbürger auf Stütze oder Kurzarbeit denkt nicht daran, nach neuen Berufsmöglichkeiten zu suchen — in Hinblick auf welche nicht existierende Wachstumsbranche innerhalb der fünf neuen Länder sollte er sich denn auch umschulen lassen?

Erst nach dem großen Kladderradatsch wird sich der Nebel über dem realexistierenden Osten Deutschlands lüften. Er hat bislang wohltätig verschleiert, welch Flickwerk die deutsche Einigung wirklich ist. Nun gut, westdeutsche Verwaltungen haben sich wacker abgearbeitet. Der Politik aber hat es an jeglicher Inspiration gefehlt, sie hat ihre Fehleinschätzungen stets nur stückweise korrigiert — wenn überhaupt —, und die Opposition hat sich noch nicht einmal zu einem politischen Korrektiv emporschwingen können. Vor allem aber hat der dummdreiste Paternalismus Helmut Kohls, das ewige Gerede von „Das machen wir schon!“, auch der westdeutschen Bevölkerung ein Gespür dafür ausgetrieben, was im Osten derzeit und auf lange Sicht gebraucht wird: nicht nur Geld, sondern auch Inspiration, nicht nur Konsumgüter, sondern Menschen mit just der Lust an der Gestaltung eines lebendigen politischen und ökonomischen Lebens in Ostdeutschland, die unseren politischen Eliten vollständig abzugehen scheint. Deutschland — ein mieses, kleinkrämerisches, so stinkreiches wie erbärmliches Land? So sieht es derzeit aus, und noch, gerade noch ist die Frage offen, ob wir die politischen „Führungskräfte“ haben, die wir auch verdienen. Cora Stephan

Die Autorin ist freie Journalistin. Sie lebt in Frankfurt/Main.