„Eine fürchterlich mißratene Regelung“

■ Der Bonner Strafrechtler Professor Hans-Ullrich Paeffgen zur Kronzeugenregelung nach dem Urteil gegen RAF-Aussteiger Lotze

taz: Das Bayerische Oberste Landesgericht hat sich im Fall Lotze bei der Anwendung der Kronzeugenregelung sehr „geziert“. Haben die Richter versäumt, Signale in den Untergrund zu senden, nach dem Motto: Der Ausstieg lohnt sich?

Hans-Ullrich Paeffgen: Darüber läßt sich nur spekulieren. Die Bundesregierung und seinerzeit Generalbundesanwalt Rebmann hofften, daß man mit der Kronzeugenregelung den Terrorismus von innen aufbrechen kann. Aber Indizien dafür gibt es nicht. Eher im Gegenteil: Auf einem viel primitiveren Feld, nämlich im Betäubungsmittelrecht, hat das Mittel Kronzeuge schon völlig versagt. Es liegt nahe, daß dies erst recht im Bereich des Terrorismus so ist. Hier geht es schließlich um ideologiegesteuerte Täter, die hochgradig motiviert sind. Der Umstand, daß noch nicht einmal die Auslobung von einer Millionen Mark jemand aus dem inneren Kreis der RAF dazu gebracht hat, seine eigenen Leute zu „verpfeifen“, ist ein schlagender Beweis dafür, wie unwahrscheinlich ein Erfolg mit der Kronzeugenregelung ist. Alle Erwartungen an sie sind nichts anderes als ein Stochern mit der Stange im Nebel. Ich würde mir sehr wünschen, daß diese Regelung nach Ablauf der Frist im Jahre 1992 wieder abgeschafft wird. Nicht zuletzt deshalb, weil man den Angehörigen der Opfer kaum wird klarmachen können, daß der Täter als Kronzeuge dann am Comer See sein Dasein mit einer Staatsrente fristet.

Wie realistisch ist es denn, daß das Gesetz wieder abgeschafft wird?

Das ist in der Tat die Frage. Nachdem sich schon vor Jahren nahezu alle Experten — ob Strafverteidiger, Richter oder Professoren — vergeblich gegen diese Regelung ausgesprochen haben, befürchte ich, daß man sagen wird: Die Zeit war zu kurz, um einen Nachweis des Erfolges herbeizuführen.

Werner Lotze hat sich gänzlich von der Rote Armee Fraktion losgesagt und alles ausgepackt, was er wußte. Er hat aber nicht an der Ergreifung von aktiven RAF-Mitgliedern mitwirken können. Das bedeutet, daß ein Täter, der gestern einen Mord begangen hat und heute seine Mittäter verpfeift, besser davonkommt als ein seit zehn Jahren „resozialisierter“ Angeklagter.

Das überzeugt mich so nicht ganz. Sicher, Herr Lotze hat zehn Jahre in einer mehr oder minder sozial angepaßten Form gelebt. Er wird nun durch das Verfahren mit seiner kriminellen Vergangenheit konfrontiert und wird in einen Strafvollzug geschickt, der nicht unbedingt ideal ist. Aber der Gedanke, daß derjenige gut dran ist, der noch im Schlamm drinsteckt, weil der noch etwas zum Aufbrechen der kriminellen Strukturen tun kann, Herr Lotze dagegen in diesem Sinne nichts mehr zu bieten hat, berücksichtigt nicht, daß Resozialisierung lediglich ein Strafvollzugsziel, aber nicht der einzige Strafzweck ist. Stellen sie sich — nur als Gegenbeispiel — vor, man würde alle alten KZ-Schergen, die jetzt schon seit 40 Jahren ein wunderbar bürgerlich angepaßtes Leben führen, aus dem Bereich der Strafverfolgung herausnehmen. Es wäre auch falsch, wenn das Strafrecht hier politisch unterschiedlich gewichtet.

Sie meinen also, Herr Lotze muß für seine Taten büßen?

Darum geht es nicht. Der Schwerpunkt ist der Schuldvorwurf: Dieser Mann hat mehrere Mordversuche und sogar einen „erfolgreichen“ Mord begangen. Das wird nicht dadurch ungeschehen gemacht, daß Herr Lotze ein liebenswürdiger Nachbar und ein freundlicher Familienvater geworden ist. Dies müßte im Rahmen der Strafzumessung berücksichtigt werden.

Aber Lotze hat einen Mord gestanden. Dafür ist lebenslang zwingend vorgeschrieben. Ohne die Kronzeugenregelung wäre eine andere Strafe nicht möglich gewesen.

Wenn es die Kronzeugenregelung nicht gegeben hätte, dann wäre in der Tat der Umstand, daß sich Herr Lotze reuig und geständig gezeigt hat, zumindest bei dem vollendeten Polizistenmord nicht berücksichtigt worden. Hier zeigt sich sozusagen ein positives Abfallprodukt dieser ansonsten fürchterlich mißratenen und rechtsstaatlich hoch bedenklichen Regelung. Aber mit der Kronzeugenregelung entsteht eine gesetzliche Ermächtigung für einen Deal zwischen Rechtsstaat und Verteidigung. Es fragt sich, ob man dann nicht auch auf die Einhaltung solcher Versprechen klagen könnte.

Immerhin haben sich Anklage wie Verteidigung einen erheblich größeren Strafrabatt versprochen...

Dies wird wohl so gewesen sein. Daß der Generalbundesanwalt den Tatverdächtigen möglicherweise mit Aussicht auf eine niedrigere Strafe ködert, ist eine weitere, typische Tücke dieses Gesetzes. Schließlich kann der Generalbundesanwalt nicht allein entscheiden. Er ist an die Zustimmung des Bundesgerichtshofs gebunden.

Wie kommt man aus dem Dilemma heraus?

Das Verfahren gegen Herrn Lotze gäbe dem Gesetzgeber eigentlich Anlaß, über die zwingend lebenslange Freiheitsstrafe beim Mord nachzudenken. Auch bei diesem Delikt müßte die innere Umkehr des Täters berücksichtigt werden können. Dann bestünde für den Bundesgerichtshof auch die Chance, irgendwelche besonders schneidig durchhauenden Oberlandesgerichte zurückzupfeifen. Es gäbe also durchaus Techniken, um im Einzelfall zu sagen: Wir erkennen an, daß du nicht mehr der alte bist. Interview: Hasso Suliak