„Russe bleiben und trotzdem gut leben“

Einige Republiken halten eigene Volksbefragungen über Unabhängigkeit oder Fortbestand der Union ab/ Sechs stellen sich quer/ Die Russen wollen bleiben, wo sie sind/ Die Ängste der Zusiedler wirken sich am stärksten in Zentralasien aus  ■ Aus Moskau K.-H. Donath

„Finden Sie, daß es unumgänglich ist, die Sowjetunion als erneuerte Föderation gleichberechtigter souveräner Republiken zu erhalten, in denen die Rechte und Freiheiten von Personen aller Nationalitäten vollständig gewährleistet werden?“ Auf diese Frage sollen in einem Referendum am 17.März, geht es nach dem Willen der Moskauer Zentrale, die Bürger aller 15 Sowjetrepubliken nicht nur antworten, sondern sie möglichst auch bejahen. Abgesehen vom suggestiven „wording“ hat das Referendum noch einen weiteren Haken. Eigentlich gibt es nichts zu entscheiden. Wie man ursprünglich gehofft hatte, steht die Abstimmung über einen neuen Unionsvertrag nicht zur Disposition. Gorbatschow möchte einen Kontrakt absegnen lassen, dessen Inhalt noch gar nicht fixiert ist. Stimmt man daher mit Nein, bleibt alles beim Alten. Wer kann das schon wollen? Stimmt man aber mit Ja, so überreicht man der Zentrale einen Blankoscheck — beides sind nicht gerade rosige Aussichten.

Die zum Ausstieg entschlossenen Sowjetrepubliken Armenien, Georgien und allen voran das Baltikum: Lettland, Litauen und Estland erklärten postwendend, auf ihrem Territorium werde dieses Referendum nicht abgehalten. Stattdessen beschlossen sie Volksbefragungen unter dem Tenor: „Wollen Sie, daß Ihr Land zukünftig eine unabhängige, demokratische Republik wird? Gorbatschow erklärte eine für Litauen am 9.Februar geplante Abstimmung dieses Typus für illegal und unwirksam. Hier sitzt der Präsident am kürzeren Hebel. Die Referenda lassen sich von Moskau aus verbieten, aber nicht unterbinden — es sei denn, durch massivstes Militäraufgebot. Damit aber ist nicht zu rechnen.

Bisher erklärten sich nur die zentralasiatischen Republiken und Weißrußland zur Teilnahme bereit. Aus der Ukraine hieß es, man sei grundsätzlich gewillt, nur gefiele dem Präsidium des Obersten Sowjet die Fragestellung nicht. Die endgültige Entscheidung wolle man dem Parlament überlassen. Im Kiewer Obersten Sowjet aber verfügen die Separatisten, die vornehmlich in der Westukraine beheimatet sind, über eine nicht zu unterschätzende Hausmacht. Moldawien und Aserbaidschan haben bis dato gar nicht reagiert. Doch wird Aserbaidschan, das gerade die Attribute „sozialistisch“ und „Sowjet“ aus seinem Namen tilgte, wohl kaum noch über einen Verbleib in der Union der sozialistischen Sowjetrepubliken nachsinnen.

In der Russischen Föderation (RSFSR) ist der Fall anders gelagert. Hier brachte die Parlamentarische Gesetzgebungskommission den Vorschlag ein, das Allunionsreferendum mit einem Entscheid über die Wahrung der Rechte der Republik und die Einführung eines Präsidentenpostens zu kombinieren. Bisher bekleidet der populäre Boris Jelzin nur das Amt eines Vorsitzenden des Obersten Sowjets der RSFSR. Ließen sich die beiden Aspekte miteinander verknüpfen, so spekulieren radikale Kräfte, käme dies einer Aufwertung Jelzins gleich.

Vor dem Hintergrund dieses Gerangels um einen neuen Unionsvertrag förderte eine Umfrage, die das sowjetische Zentrum für Meinungs- und Marktforschung vor kurzem unter der russischen Bevölkerung in 10 Republiken durchgeführt hat, Ergebnisse zutage, die aufhorchen lassen. Von den 25 Millionen Russen, das sind 17 % der Bevölkerung der UdSSR, die nicht im russischen Stammland leben, möchte der überwiegende Teil auf gar keinen Fall nach Rußland zurückkehren. Lediglich 300.000 spielen mit diesem Gedanken. Die meisten befürchten, ihre materielle Lage würde sich dadurch spürbar verschlechtern. Befragt, ob sie sich eher als Bürger der jeweiligen Republik oder als Sowjetbürger fühlten, entschied sich die Mehheit für die Union. Allerdings treten hier große regionale Unterschiede auf. Gerade im Baltikum, wo die Zentrale unter dem Vorwand intervenierte, die russischsprachige Bevölkerung würde zunehmend diskriminiert, sind die Daten aufschlußreich. In Estland traten 44 Prozent der Nichtesten für einen unabhängigen Staat ein, und etwa ein Drittel der Russen in Lettland und Estland fühlten sich zunächst als Bürger der Republik. Selbst im fast ausschließlich russisch besiedelten Nordosten Estlands sprachen sich 58 Prozent für die Unabhängigkeit aus. Nur ein Zehntel in beiden Republiken wäre bereit, sich einer Bürgermiliz zur Verteidigung der russischen Interessen anzuschließen. Rund ein Drittel lehnt alle gewaltsamen Maßnahmen ab, „weil sie den Russen schaden würden“. Zwischen 20 und 30 Prozent der ethnischen Russen in der Ukraine, Kasachstan, Georgien, Estland und Lettland stimmen zudem auch in den anderen politischen Fragen mit der Haltung der einheimischen Regierung überein.

Gänzlich andere Antworten kommen aus den zentralasiatischen Gebieten Usbekistan, Tadschikistan, Kirgisien und Kasachstan, wo es in den letzten Monaten eher ruhig zugegangen ist. Gerade diese Republiken sprachen sich vorbehaltlos für eine Fortführung der Union aus. Und doch haben hier die Spannungen zwischen einheimischer Bevölkerung und Russen einen wesentlich höheren Grad erreicht. Fast alle begreifen sich daher auch als Bürger der Sowjetunion. Sahen im Baltikum drei Viertel keinen Grund für gewaltsame Auseinandersetzungen, ist es in Zentralasien genau umgekehrt. In Usbekistan rechnen 72 Prozent mit einem Gewaltausbruch, gefolgt von Tadschikistan mit 66 Prozent. Die meisten Russen schrecken hier nicht davor zurück, die Armee zu ihrer Sicherheit zu rufen. Auch die Bereitschaft, sich in Bürgerwehren zusammenzuschließen, liegt hier wesentlich höher. Und noch etwas ist auffallend: Im Baltikum hält es weniger als ein Drittel für wahrscheinlich, daß Russen das Land massenweise verlassen müßten. Dem stehen aber vier Fünftel in Zentralasien gegenüber, obwohl diese Republiken an der Union festhalten wollen. Hier liegt offenkundig ein Widerspruch, der sich zum Teil dadurch erklärt, daß die alte kommunistische Führungsschicht in Zentralasien noch ziemlich fest im Sattel sitzt. Weiteren Aufschluß könnte in diesem Fall tatsächlich das Referendum bringen, wenn denn bei der Auszählung nicht gemogelt wird.