Krisensitzung des jugoslawischen Staatspräsidiums
: Jugoslawiens neunte Republik ist die Armee

■ Heute treten die Repräsentanten der jugoslawischen Republiken zu einer Krisensitzung zusammen, um sich über die Zukunft des Vielvölkerstaates zu beraten. Der Zerfall Jugoslawiens indes scheint durch die Austrittserklärung Sloweniens unausweichlich.

Immer dramatischer und unübersichtlicher wird die politische Situation in Jugoslawien. Jetzt schlug der slowenische Ministerpräsident Jose Pucnik sogar vor, Slowenien solle Jugoslawien sofort verlassen und sich Österreich anschließen. Kroatien würde angesichts dieses Schrittes auch aussteigen und nicht mehr auf ein föderatives Modell drängen. In Bosnien fordert die muslimanische Mehrheitspartei eine Volksabstimmung über die Zukunft der Republik. Wenn heute wieder die jugoslawischen Spitzenpolitiker im Staatspräsidium zusammenkommen, ist für Zündstoff gesorgt, der buchstäblich explodieren könnte. Denn eine besondere Lunte legten die Kroaten, indem sie forderten, die drei Stühle, bisher im Staatspräsidium für die Armeespitze reserviert, sollten leer bleiben. Die Führungsspitze Armee dagegen donnerte zurück, man werde sich doch nicht von ein paar „Separatisten“ von der politischen Bühne vertreiben lassen. Denn sie fühlt sich als ein Garant für die Integrität des Staates.

Hintergrund für diesen Disput ist die in Europa einzigartige verfassungsrechtliche Stellung der Streitkräfte. Denn die Armee gilt nach Artikel 240 der Verfassung von 1974 als „neunte föderative Einheit“, sprich: neben den sechs Republiken und zwei autonomen Provinzen als neunte Quasi-Republik in Jugoslawien. Dieser „Staat im Staate“ war bisher befugt, sich in „alle Schicksalsfragen der Nation“ einzumischen. Ähnlich wie im sowjetischen Vielvölkerstaat Lenin der Roten Armee bedeutende Sonderrechte in Politik, Gesellschaft und Wirtschaft zugestand, räumte auch der jugoslawische Staatsgründer Tito der „Volksbefreiungsarmee“ weitgehende Rechte bei der Staatsgründung des sozialistischen Jugoslawiens 1944 ein. Er ging sogar noch einen Schritt weiter. Die Volksbefreiungsarmee müsse „in alle gesellschaftlichen Bereiche eindringen“, denn gerade die Partisanen waren ja zuverlässig, ihr Kampf hatte die Befreiung des Landes von den deutschen und italienischen Truppen bewirkt. Die Armee hatte also von Anfang an eine Sonderstellung in Staat und Gesellschaft des „Marschalls“ Tito. Für ihn stellte die Armee eine Klammer für den Vielvölkerstaat dar. Bei den Partisanen waren alle Nationen vertreten, sie dachten gesamtjugoslawisch. Die Armee sollte auch späterhin als Garant der Einheit wirken. So verwundert es nicht, daß die meisten wichtigen Politiker früher hohe Offiziere waren. Dazu gehören übrigens auch die Präsidenten Kroatiens und Sloweniens, Tudjman und Kucan.

Wie eng die Armee, Partei und andere gesellschaftliche Institutionen miteinander verwoben waren, zeigt gerade die Affäre um den kroatischen Innenminister Spegelj, der früher hoher Armeeoffizier war und jetzt eine kroatische Armee aufbauen will. Doch auch auf viel niedrigeren Politrängen war der Einfluß der Armee zu spüren. Viele Offiziere der niederen Ränge fungierten als Abgeordnete in den Gemeinderäten, den Republikparlamenten etc. Die Schätzung, ungefähr ein Drittel aller Mandatsträger sei mit der Armee verbunden, ist zumindest bis zu Titos Tod 1980 als realistisch anzusehen.

Seither sind die Nationalitätenkonflikte aufgebrochen, auch in der Armee. So ist es kein Wunder, wenn jede Nationalität ihre Schäfchen in dieser Institution zählt. Kommt ihr doch, vor allem nach den sich jagenden Putschgerüchten, eine entscheidende Rolle für die Kräfteverhältnisse bei den Nationalitätenkonflikten zu. Irritationen gab es bei ausländischen Beobachtern, als sich in den letzten Jahren die Führung der Armee der Position des serbischen Parteichefs Milosevic anzunähern schien. Und vor allem in den nördlichen Republiken Slowenien und Kroatien tauchte der Verdacht auf, die Armee lasse sich für die serbischen Interessen funktionalisieren. Vor allem in der Boulevardpresse Sloweniens und Kroatiens werden Serbentum, Kommunismus und Putschgelüste der Armee gerne in einen Topf geworfen. Die Behauptung, 80 Prozent aller hohen Offiziere seien Serben, ist ebenso falsch wie die Behauptung, der größte Teil der Mannschaften bestehe aus Albanern. Serbisch ist zwar die Kommandosprache, doch die Generäle stammen aus allen jugoslawischen Regionen. Der heute fungierende Oberbefehlshaber Vejko Kadijevic stammt aus Kroatien. Wahr an der Formel ist nur, daß das serbische Volk mit acht Millionen Menschen allein doppelt so groß ist wie das kroatische. Und daß die Albaner mit ihrem Kindersegen der Armee geburtenstarke Jahrgänge bescherten. Die Armee ist also durchaus ein heterogenes Gebilde. Ihr Auftrag allerdings, für den jugoslawischen Gesamtstaat einzustehen, bleibt in ihrem Bewußtsein bestehen. Deshalb ist auch zu verstehen, daß die Armee im letzten November selbst eine politische Partei gründete, die „Bewegung für Jugoslawien“, die allerdings eine stark konservative und antidemokratische Ausrichtung hat. Angesichts der Tatsache, daß die meisten Wähler entlang der nationalistischen Linien wählten, die demokratischen Kräfte aber den Konservativismus nicht akzeptieren können, errang diese Partei selbst bei den Wahlen in Serbien nicht einmal vier Prozent der Stimmen.

Trotz dieser Niederlage beharrt sie aber darauf, jegliche separatistische Tendenzen zu bekämpfen. Die Zentralregierung unter Ante Markovic, die immer noch auf die Unterstützung der Europäischen Gemeinschaft zählen kann, steckt angesichts der politischen Haltung der Armee in einem Dilemma. Einerseits will auch sie mit aller Macht ein Auseinanderbrechen des Staates verhindern. Eindeutig mit der Armee zu koalieren, bedeutete aber, dem selbst gesteckten Demokratisierungsanspruch für die Gesellschaft aufzugeben. Und in diesem Zusammenhang bleibt der Bundesregierung nichts anderes übrig, als die Forderungen der Republiken Kroatiens, Sloweniens, zunehmend auch Bosniens und Mazedoniens, die Armee als gleichberechtigten Partner auszuschalten, zu akzeptieren. Roland Hofwiler