Große Oper des Privaten

Die „Geschichte des privaten Lebens“, 2. Teil: Historischer Kompromiss & Große Koalition  ■ Von Hartmut Kugler

Hier werden die Türen aufgestoßen zu den Herzkammern der Geschichte Europas.“ Mit diesem verbalen Trommelwirbel aus der 'New York Times Book Review‘ wirbt der Fischer-Verlag für sein neues Paradeprojekt Geschichte des privaten Lebens. Und in der Tat, große Oper ist angesagt. Fünf dicke Bände soll das Ganze umfassen, zwei Reckengestalten der neuen französischen Geschichtswissenschaft, Philippe Ariès und Georges Duby, fungieren als Gesamtherausgeber. Einst haben sie mit ihrem Programm einer Geschichtsschreibung der Mentalitäten, der Sitten, der Alltäglichkeiten Front gemacht gegen die klassische Historiographie der Haupt- und Staatsaktionen und sind damit längst selbst zu Klassikern geworden. Kaum jemand räsonniert noch darüber, daß auch das ereignislose Geschehen Geschichte ist, daß auch scheinbar so ahistorische Befindlichkeiten wie Kindsein oder Muttersein oder Kranksein historische Veränderungen durchmachen, die geschichtsmächtiger sein können als jede Zwei- oder Drei-Kaiser- Schlacht.

Wir dienen dem Fortschritt des großen Spiels

Mit der Geschichte des privaten Lebens sind die Mentalitätshistoriker nun aufs Ganze gegangen und haben es erreicht; nicht durch endgültige Niederwerfung ihrer traditionellen Gegner, sondern durch historischen Kompromiß und große Koalition. Mit der Würde eines großformatigen und üppig bebilderten Handbuchs wird es uns jetzt beglaubigt: Unser ewiger Ärger mit der Verwandtschaft oder der Hausgemeinschaft, unsere anarchischen Bedürfnisse nach Essen, Ruhe oder Liebe, sie randalieren nicht ziellos vor sich hin und sind nicht nur dazu da, wie wir doch oft verzweifelnd glauben könnten, jeden historischen Prozeß kaputtzumachen. Nein, sie fügen sich gehorsam dem Wellenschlag der Universalgeschichte und dienen dem Fortschritt des großen Spiels oder doch wenigstens seinem Fortgang, und zwar von den Römern bis zu uns.

Auf Französisch liegen alle fünf Bände schon vor, und mit ihren Etappengrenzen werden sie auch den konservativsten Studienrat für sich einnehmen, weil er sie aus dem Schulbuch kennt: 1. Vom Römischen zum Byzantinischen Reich, 2. Vom Feudalzeitalter zur Renaissance, 3. Von der Renaissance zur Aufklärung, 4. Von der Revolution zum 1. Weltkrieg, 5. Vom Weltkrieg bis in die Gegenwart. Die deutsche Fassung ist jetzt mit Band 2 herausgekommen, die restlichen drei sind jeweils für Herbst 1991, 1992 und 1993 angekündigt. Da wird zum Glück nichts überstürzt, die Übersetzung (von Holger Fließbach) soll gut sein und ist gut, und so etwas braucht Zeit.

Der Auftritt des Individuums

Band 2, Vom Feudalzeitalter zur Renaissance, hat Georges Duby mit fünf Kolleginnen und Kollegen verfaßt. Duby schlägt, wie bei einer Kunst der Fuge, das Grundthema an, die anderen arbeiten mit kenntnisreichen Variationen die Sätze des Werkes aus. Es geht in dem Band um so etwas wie die Evolution der individuellen Privatheit im Schoß von Gemeinschaft und zugleich in der Abkehr und die Abkehr von ihr. Am Anfang (S. 49 ff.) steht das „Gemeinschaftsleben“ der Feudalzeit mit ihren Klöstern und Großfamilien, am Ende (S. 471 ff.) der „Auftritt des Individuums“, der „Wunsch nach Autonomie“, die „Erfindung des Subjekts“. In Jahreszahlen ausgliedern läßt sich Derartiges natürlich nicht, ein Jahrhundert ist die handlichste Zeiteinheit.

Das größte, aber auch spannendste Problem sind dabei die Quellen. Denn wenn im Mittelalter etwas in Urkunden oder Berichten schriftlich festgehalten worden ist, dann war es nichts Privates, sondern in der Regel waren es die repräsentativen Haupt- und Staatsaktionen. Privates läßt sich da nur aus Beiläufigkeiten und Zufälligkeiten und durch ausdauerndes Bürsten gegen den Strich herausarbeiten. Am ergiebigsten sind noch die Dichtungen. Erzählungen von Heiligen, von Mönchen, von Rittern, von wirklichen oder erfundenen, bergen viele Facetten des Privaten in ihrem poetischen Faltenwurf. Dichtungen gehören deshalb zum bevorzugten Material des französischen Autorenteams. Über den Aufenthalt der Männer in Frauengemächern z.B. sei die Romanliteratur die „einzige Informationsquelle, die wir haben“ (S. 88 f.).

Das Quellenproblem, die Autoverwertung

Das Material hat freilich seine Tücken. Ein Beispiel: Unter dem Obertitel „Situationen der Einsamkeit“ holt Duby eine Anekdote aus dem frühen 11. Jahrhundert ans Licht, in der berichtet wird, „wie Hugo Capet in seiner Burg beiläufig den Mantel über ein Paar wirft, das zwischen zwei Türen Unzucht treibt“ (S. 482). Die Anekdote kann recht gut die gedrängte Enge mittelalterlicher Haushaltungen belegen. Viel Rückzugsräume gab es nicht, wenn draußen das Wetter schlecht war. Intimität und Geselligkeit klebten zwangsläufig dicht an dicht und Tür an Tür. Aber soll man die Episode darüber hinaus noch als entwicklungsgeschichtliches Indiz für eine Wende vom offenen zum verdeckten Geschlechtsverkehr verstehen? Der Leser darf grübeln, wenn der Autor den Zeigefinger hebt und deutend raunt: „Der intimste Akt darf von niemandem belauscht werden; er muß ins Dunkel gehüllt, hinter Türen versteckt werden.“ (Duby, ebd.) Na, sowas. Soll man denn im Ernst glauben, das sei vor dem 11. Jahrhundert anders gewesen? Weil es Duby bei seiner lakonischen Banalität beläßt und rasch zu anderen Dingen übergeht, fühlt man sich am Kern der Episode vorbeigelotst. Warum ist die Sache mit dem Mantel überhaupt notiert worden, im 11. Jahrhundert? Sie sollte doch anscheinend diesen Hugo Capet charakterisieren, der ja nicht irgendwer war, sondern der Gründervater des Köngigshauses der Kapetinger. Vielleicht war sein Mantelwurf eine Geste der Großmut und des Mitleids, eine Parallelaktion zur Mantelteilung des Hl. Martin? Vielleicht war das Liebemachen zwischen zwei Türen auch im finsteren Mittelalter keine Alltagsrealität, sondern ein gesucht drastisches Bild für die Verderbtheit der Welt, die der erste Kapetinger ordnen sollte? Die alten Erzählungen spiegeln Realität nicht plan ab, sie montieren und stilisieren und setzen Bedeutung.

An den literarischen Bedeutungshorizont kommt aber der Historiker des Privaten nicht heran, er muß alles im Dunkeln lassen, weil er sonst aus der Spur gerät. Das ist das grundsätzliche Problem, nicht nur bei dieser Mantelepisode, sondern überall dort, wo gedichtete Texte zur Bezeugung des realexistierenden Privatlebens herangezogen worden sind; und das ist in vielen Passagen des Buchs geschehen. So verdienstvoll es ist, wenn Historiker die Dichtung ernst nehmen, so riskant sind doch auch ihre Zangengriffe ins Eingeweide; manches gemahnt an lieblose Praktiken der Autoverwertung, wo die gesuchten Teile hastig aus einem Wrack gerupft werden ohne Rücksicht darauf, ob sie dann auch funktionieren.

Der Atem der großen Geschichte, das Keuchen im kleinen Bettkasten

Trotz solcher Schwierigkeiten und des dahinter zuweilen drohenden Beweisnotstandes macht das Buch deutlich, wie und weshalb die historischen Veränderungen des Privaten sich mit den Epochenbildungen der Ereignisgeschichte vereinbaren lassen und geradezu parallel gehen: Der Atem der großen Geschichte und das Keuchen im verschwiegenen Bettkasten sind im Lauf der Zeit nahezu harmonisch aufeinander abgestimmt. Das ist nicht selbstverständlich, hat aber gute materielle Gründe. Denn die Geschichte des privaten Lebens bringt nicht die Geschichte der kleinen, namenlosen Leute, bringt nicht den unauffälligen Alltag derer, die nie eine öffentliche Rolle gespielt haben. Es ist in erster Linie die Privatheit der herrschenden Gesellschaftsschicht, die uns der Band Vom Feudalzeitalter zur Renaissance nahebringen kann. Es sind eben die Leute, die geschichtemachende Verträge unterzeichnet und Ehen geschlossen und Schlachten geschlagen haben, deren Privatleben hier unter die Lupe genommen wird; einfach deshalb, weil wenig anderes für die Lupe da ist. Die schweigende Mehrheit hat selten auswertbare Zeugnisse hinterlassen; der Sonderfall der ketzerverdächtigen Dorfbewohner von Montaillou, die von der Inquisition in den Zeugenstand ihres Jahrhunderts (des 14.) hineinschikaniert worden sind, kann daran nicht viel ändern. Die Geschichte also des Privatlebens nur der herrschenden Kreise lernen wir kennen, nicht des Privatlebens generell.

Nur die auf der Geschichtsbühne vor den Kulissen beschäftigten Akteure haben so reichlich Spuren hinterlassen, daß auch ihr Treiben hinter den Kulissen erkennbar geworden ist. Immerhin, das ist auch nicht wenig. Und es entspricht getreu dem Wortsinn von „privat“, der aus dem lateinischen Verb privare ('rauben‘) kommt: Als privat galt ursprünglich das, was übrigblieb, wenn das Öffentliche und Repräsentative weggenommen war. Das Wort Privatio ('Beraubung‘) bezeichnet in der mittelalterlichen Scholastik einen Mangelzustand, es verweist auf eine Qualität, die ein Gegenstand eigentlich haben sollte, aber nicht hat.

Die Versuchung der Moderne: Geschichte als Vorläufer des Künftigen

Duby stellt gleich zu Anfang (S.19) fest, daß der Begriff des Privatlebens erst im 19. Jahrhundert „erstmals in seiner vollen Bedeutung hervortrat“. Er will damit nicht sagen, die gesamte Geschichte des privaten Lebens sei auf die Gegenwart, sei auf unsere Moderne zu geschrieben. Immer wieder wehren sich er und seine Mitautoren gegen „die Versuchung der Moderne, die letzten Jahrhunderte des Mittelalters als Vorläufer von Künftigem zu begreifen“ (so Philippe Braunstein, S. 498). Und doch ist es das moderne Verständnis von Privatheit, das all den historischen Erkundungen ihren inneren Zusammenhalt gegeben, die Neugier wachgehalten und für den Reiz der fernen, andersartigen Vergangenheit gesorgt hat. Begreiflich wird das gerade an dem besonders fesselnden und zupackenden Kapitel über „Verwandtschaftsverhältnisse und Großfamilie“ von Dominique Barthélemy (S. 95-159). Die auf Claude Lévi-Strauss' und Marc Blochs Arbeiten fortbauende Überschau ist abstrakt genug, um etwa das fremde System frühmittelalterlicher Sippenbildung und Sippenbindung in seiner Allgewalt zu demonstrieren, und ist zugleich konkret genug, um die „tatsächliche Textur“ des von der Sippe geschützten wie bedrohten Individuallebens zumindest erahnen zu lassen. Aber das alles wäre doch, so gewinnt man den Eindruck, relativ belanglos für die Autorin wie für ihre Leser, wäre es nicht Bestandteil eines „langwierigen Prozesses“, der die „uralte“ und fast „natürlich“ zu nennende Einheit der Sippen schließlich und endlich „in einen Gefühlsverband modernen Zuschnitts“ transformiert hat (vgl. S. 158). Alle Erkundungsgänge durch Kloster und Burg, durch Haus und Garten, alle Beobachtungen der Mühsal von Kriegern und Bauern, alle Betrachtungen der Körper im bekleideten und im nackten, im tanzenden und im toten Zustand, sie alle haben ihren gemeinsamen heimlichen Fluchtpunkt in der Idee des freien, allseitig entwickelten, selbstbestimmten Individuums; irgendwie scheint das idealmoderne Ich, unser Ich, doch so etwas wie das Ziel und die Erfüllung der Geschichte zu sein.

Auf Wolke sieben in der Toskana

Da ist es für den Leser eine schöne Bestätigung, daß die „gesellschaftlichen Eliten“, die „an der Schwelle zur Renaissance“ erstmals das Selbst zu sich selbst haben finden lassen, just in der europäischen Region zu Hause waren, in der wir spätmodernen Mitteleuropäer uns auch am liebsten selber suchen: in der Toskana (S. 161). „Mit ganz neuer Aufmerksamkeit beobachtete man (in der Toskana seit dem 14. Jahrhundert) die Probleme des privaten Lebens, das nun aus dem Halbdunkel seiner Vorgeschichte herausgetreten war.“ (ebd.) 'Gehe hin‘, fühlt sich der geneigte Leser angesprochen, 'gehe hin und tue desgleichen.‘

Es tut dem heutigen, von so vielen öffentlichen Zwängen geängstigten Privatmenschen fraglos gut, wenn er sich auf die langwierigen und subtilen Reifeprozesse seines gemeineuropäisch formierten Selbst besinnen kann; er tut es am besten mit dem prächtig-bunten Geschichtsbuch auf den Knien und im klaren Licht der Toskana. Von Wolke sieben herab lächelt derweilen Jacob Burckhardt und freut sich darüber, daß seine hundertjährige Kultur der Renaissance jetzt einen aufgeweckten Urenkel bekommen hat.

Philippe Ariès und Georges Duby (Hrsg.): Geschichte des privaten Lebens. 2. Band: Vom Feudalzeitalter zur Renaissance; hrsg. von Georges Duby. Deutsch von Holger Fliessbach. S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 1990, 608 Seiten, gebunden, 450 Abb., 88 DM. (Die französische Originalausgabe des 2. Bandes der Histoire de la vie privée erschien unter dem Titel De l'Europe féodale à la Renaissance 1985 bei Editions du Seuil, Paris.)