Eine sanfte Revolution in der Karibik

Inmitten eines Volksfestes beginnt Jean-Bertrand Aristide seine Amtszeit als erster demokratisch gewählter Präsident Haitis/ Acht Putschisten-Generäle in den Ruhestand versetzt/ Lob für Bonn und Nichterwähnung Washingtons  ■ Von Hans-Christoph Buch

Port-au-Prince (taz) — Vom Kanonendonner des Golfkriegs übertönt, ist am anderen Ende der Welt, in Haiti, ein Wunder geschehen. Das Volk des rückständigsten Landes der westlichen Hemisphäre, das seit Jahrzehnten nur durch Militärputschs, Massaker, Voodoo und Aids Schlagzeilen macht, besinnt sich auf seine eigene Kraft: „Tout seul c'est faible, ensemble c'est fort, ensemble ensemble c'est Lavalas“ („Jeder für sich ist schwach, gemeinsam sind wir stark, mit vereinten Kräften sind wir unaufhaltsam“). Mit diesem Refrain, von einer vieltausendköpfigen Menge wiederholt und von Radio und Fernsehen über das ganze Land verbreitet, hat der erste demokratisch gewählte Präsident Haitis, der Befreiungstheologe Jean- Bertrand Aristide, frenetischen Jubel ausgelöst: Die ganze Nacht hindurch waren Trommeln zu hören, und bis zum Morgengrauen bewegten sich singende und tanzende Menschenmengen durch die Straßen von Port-au-Prince, eine Mischung aus Revolution und Karneval.

Père Titid, wie ihn die Bewohner der Slums und die armen Bauern des Landesinnern liebevoll titulieren, verband die Mobiliserung der Massen — in Anspielung auf die durch tropische Regenfälle ausgelösten Erdrutsche „Lavalas“ genannt — mit einem Bekenntnis zu Rechtsstaat und Demokratie und mit einem Aufruf zur strikten Gewaltlosigkeit, Respektierung der Menschenrechte auch der Frauen und Kinder, von denen viele in Haiti ohne Eltern aufwachsen müssen, und zu ökologischer Erneuerung der total heruntergewirtschafteten Insel. Zur Finanzierung dieser Aufgaben sollen die ins Ausland verschobenen Gelder des Duvalier-Clans und seiner Erben ebenso herangezogen werden wie Entwicklungshilfe aus dem Ausland. Aristide hob die Projektförderung der Bundesrepublik lobend hervor, ohne die 80-Millionen-Dollar-Hilfe der USA überhaupt zu erwähnen.

Um mit gutem Beispiel voranzugehen, kündigte er an, daß ihm zustehende Gehalt und den Repräsentationsaufwand der Regierung drastisch zu reduzieren — auf dem anschließenden Empfang im Präsidentenpalast wurden nur in Haiti hergestellte Lebensmittel und Getränke serviert — und Amtsmißbrauch zwecks persönlicher Bereicherung streng zu bestrafen. Acht Generäle der Armee, die in den gescheiterten Putschversuch des Ex-Innenministers Lafontante und in Drogengeschäfte verwickelt waren, wurden in den sofortigen Ruhestand entlassen — eine Ankündigung, die die in Reih und Glied angetretenen Militärs sichtlich schockierte; dafür wurden unbelastete Offiziere in den Generalstab befördert. Am Abend wurde bekannt, daß Ertha Pascal Trouillot, Vorgängerin des jetzigen Präsidenten, bis auf weiteres Haiti nicht verlassen darf: Sie muß sich demnächst vor Gericht wegen illegaler Bereicherung verantworten.

Père Aristide ist ein sanfter Revolutionär, von den Ideen der Friedens- und Ökologiebewegung mehr inspiriert als von der marxistischen Rhetorik Fidel Castros. Dieser schickte zum ersten Mal seit Jahrzehnten wieder eine Regierungsdelegation nach Haiti; auch Venezuelas Präsident Perez, Jimmy Carter und Danielle Mitterrand sowie Bonns Staatsminister im Auswärtigen Amt, Schäfer, waren angereist. Ob es klug war von Aristide, sich gleich zu Anfang mit dem großen Bruder in Washington anzulegen, wird die Zukunft zeigen; die US-Diplomaten hatten bis auf die Nichterwähnung ihrer Hilfe gegen seine Rede nichts einzuwenden.

Zwar ist Skepsis angebracht, ob Aristide alle seine Versprechungen wird erfüllen können, aber sein Bündnis, das aus linken Christen, Gewerkschaftern, Schülern und Studenten besteht, hat in den Slums der Hauptstadt und auf dem Lande in überraschend kurzer Zeit eine gut funktionierende Graswurzelorganisation aufgebaut und den Schutz des von Attentaten bedrohten Befreiungstheologen garantiert. Der neue Präsident Haitis, ein glänzender Redner, der ein halbes Dutzend Sprachen spricht, verdient die Unterstützung all jener, für die Hilfe für die Armen der Dritten Welt mehr als eine billige Phrase ist.