„Es sind Fehler auch von litauischer Seite gemacht worden“

■ Justas Paleckis, stellvertretender Vorsitzender des außenpolitischen Ausschusses des Obersten Sowjets von Litauen, über die Radikalisierung nach dem Blutbad und die Rolle der Armee INTERVIEW

taz: Nach den Toten in Litauen stellt sich die Frage, wer in Moskau eigentlich die Politik in bezug auf die baltischen Staaten macht?

Justas Paleckis: Es gibt einige politische Kräfte, die eine Rolle spielen. Zunächst möchte ich davor warnen, die KPdSU als einen Monolith zu betrachten; es gibt in dieser Partei konservative, liberale und demokratische Kräfte. Augenblicklich gewinnen die konservativeren Kräfte wieder an Einfluß. Leider sind sie auch von Herrn Gorbatschow unterstützt. Die Armee ist ein Faktor in diesem Spiel und was das Baltikum betrifft, auch die russisch sprechenden Bevölkerungsschichten vor Ort. Diese dritte Kraft wird zwar immer progressiver und demokratischer. In Litauen jedoch gibt es eine Minderheit in dieser Gruppe, die gegen die Unabhängigkeit steht. Wenn ich die Ereignisse bei uns richtig verstehe, sind falsche Informationen nach Moskau geliefert worden, in dem Sinne, daß die Situation reif sei für einen Putsch.

Die kamen doch vom „Komitee zur Rettung der Nation“. Was sind das eigentlich für Leute?

In Litauen tut man so, als sei es ein großes Geheimnis. In Lettland wurde das offiziell bekanntgegeben; Herr Rubiks, der Sekretär der moskautreuen lettischen Kommunisten, leitet dort dieses Komitee. Inoffiziell wird allerdings behauptet, es handele sich um etwa 40 bis 50 Organisationen. Doch viele Organisationen leugnen jeglichen Zusammenhang mit dem Komitee. Es bleiben also nur einige Organisationen und Gruppen wie z.B. die litauische Interfront „Jedinstwo“ (Einheit), auch die moskautreue KP ist dabei. Hinzu kommt die „Vereinigung der Unionsbetriebe“ [direkt den Allunionsministerien in Moskau unterstellt; die Red.] und das Veteranenkomitee.

Sind das alles Leute aus der russischen Minderheit oder auch Litauer, die da mitmachen?

Praktisch sind das alles Russen, auch einige Polen sind darunter, aber, seitdem sich die polnische Fraktion im Parlament überraschenderweise für die Unabhängigkeit des Landes ausgesprochen hat, sind es nur wenige. Einzelne Menschen mit litauischen Namen sind aufgefallen, so z.B ist der Verbindungsmann der Organisation Leiter der ideologischen Abteilung der KP Litauens. Die russische Bevölkerung ist gespalten, der größte Teil ist seit den Ereignissen für die Unabhängigkeit Litauens, nur ein Teil unterstützt das Komitee. Aber diejenigen, die für die Unabhängigkeit sind, wollen eine Schritt-für-Schritt-Politik. Die Litauer dagegen sind größtenteils radikalisiert. Noch am 8. Januar gab es große Demonstrationen gegen die Preiserhöhungen und gegen das Parlament, die von der russischen Bevölkerung ausgingen. Danach geschah nichts mehr. Die Leute wollten sich nicht mit dem Blutbad identifizieren. Ich war als Abgeordneter im Russischen Kulturzentrum, wo bei Verantstaltungen die Menschen das Verhalten der Eingreiftruppen schärfstens verurteilten, andererseits aber auch deutlich machten, daß vom Parlament aus Fehler gemacht worden waren.

Welche Fehler waren das?

Nach all den Jahren der eigenen Unterdrückung war die Versuchung von litauischer Seite groß, die russisch- und polnischsprachige Bevölkerung zu zwingen, litauisch zu sprechen. Vor allem für alte Leute ist das eine schwierige Sache. Es gab auch zu wenige Zeitungen, Rundfunk- und Fernsehsendungen für diese Volksgruppen, so daß die Gegner der Unabhängigkeit bei ihnen Gehör fanden. Es sind also auch Fehler von den Litauern gemacht worden. Andererseits wollten aber manche Russen ihre Privilegien nicht verlieren.

Wir hatten den Eindruck, daß es Unterschiede gibt zwischen dem Oberkommando und jenen Militärs, die in den baltischen Ländern stationiert sind. Kann man die Armee überhaupt als eine Einheit begreifen?

Als Einheit kann man sie auf keinen Fall begreifen. Die Leute, die in Litauen ständig stationiert sind, würden nie auf Litauer und Demonstranten schießen. Es wurden Sondereinheiten nach Litauen gebracht, die Kommandogewalt hatten Leute von außen. Es gibt also in der Armee eine Spaltung. Die Regierung und auch das Parlament waren aber vielleicht nicht aktiv genug, um gute Beziehungen zu den Kommandanten zu unterhalten.

Das spricht doch gegen die These, Gorbatschow sei direkt involviert gewesen?

Ja. Nur der Rahmen der Aktionen wurde meiner Ansicht nach mit ihm abgesprochen. Er hat Monövrierfreiheit gegeben, ohne jedoch alle Details zu kennen. Ich befürchte auch, daß ganz falsche Informationen nach Moskau geliefert wurden, z.B. daß das Volk reif sei für den Umsturz. Tatsächlich gab es auch bei den Litauern Unzufriedenheit mit der Arbeit des Parlamentes und der Regierung. Das belegen Meinungsumfragen. Aber nach den blutigen Ereignissen haben die Leute sich eindeutig hinter das Parlament gestellt.

Andererseits sind die Aktionen doch auch koordiniert gewesen...

Zweifelsohne. Die Koordination zwischen den moskautreuen kommunistischen Parteien besteht weiter. Außerdem bilden die baltischen Länder einen Militärbezirk. Ich habe eigentlich geglaubt, daß es zuerst in Lettland losgehen werde, nicht in Litauen. Hier bei uns war ja die Situation viel stabiler.

Frau Prunskiene, die Ministerpräsidentin, ist zurückgetreten. Hat das Rückwirkungen auf die Volksfront „Sajudis“ gehabt, gibt es eine Radikalisierung?

Im Westen wird Sajudis immer noch so beurteilt wie in den Jahren 1988/89, als die Bewegung noch eine Sammelorganisation aller demokratischen Kräfte der Litauer war. Inzwischen hat sich Sajudis aber in dieser Funktion erschöpft, ihre Autorität in der Bevölkerung hat sich erschöpft. Anstelle von Sajudis organisierten sich Parteien, die das gesamte politische Spektrum von rechts bis links abdecken. Außerdem mußten all jene, die ins Parlament gingen und in die Regierung, Sajudis verlassen. Bei Sajudis blieben die radikalen nationalistischen Organisationen, die Extremisten. Erst mit den Schüssen am 12./13. ist Sajudis wieder zu alter Bedeutung zurückgekehrt, plötzlich wurde Sajudis wieder zu einem Forum.

Frau Prunskiene fühlte sich bedroht und ist in den Westen gegangen. Ist sie vor russischen Extremisten oder vor litauischen Nationalisten geflohen?

Sie wurde von beiden Seiten angegriffen. Von den Russen wurde sie als „Faschistin“ bezeichnet, aber auch durch die „Liga für die Freiheit Litauens“, einer nationalistischen Organisation, wurde sie scharf angegriffen, weil sie eine realpolitische Perspektive hatte und mit einer Schritt-für-Schritt-Politik bessere Beziehungen zu Moskau anstrebte. Für sie liegt der Schlüssel der litauischen Unabhängigkeit immer noch in Moskau. Präsident Landsbergis hingegen hat sich mehr auf die Seite jener geschlagen, die schneller vorwärts kommen wollen.

Ist denn Prunskienes Strategie noch durchsetzbar?

Nach den Ereignissen der letzten Woche ist das schwer zu sagen. Mir scheint, Landsbergis hat an Einfluß gewonnen. Ich selbst wünsche mir mehr Toleranz in den Auseinandersetzungen mit den anderen Nationalitäten in Litauen. Darüber hinaus müssen wir es schaffen, unter diesen erschwerten Bedingungen die Reformpolitik fortzusetzen. Interview: Christian Semler/Erich Rathfelder