Volksbefragung in Litauen
: Litauen beharrt auf Unabhängigkeit

■ Die Litauer sollen heute nach dem Willen ihrer Regierung auf die Frage antworten, ob sie für die Unabhängigkeit sind. Die Sowjetarmee führt just zu diesem Termin Manöver im Baltikum durch.

Litauen gibt es wirklich, auch Vilnius ist keine Erfindung von CNN und macht bei der Anfahrt vom Flughafen her keineswegs den Eindruck einer in Horror vesetzten Stadt. „Hier ist alles ruhig“, versichert der Taxifahrer mir und den Mitpassagieren aus der Ukraine, „sie haben ein bißchen herumgeballert, um uns zu erschrecken, aber ohne Erfolg.“

Aus westlicher Perspektive strahlt der Prospekt Gedimino eine nostalgische Normalität aus: die Vilniusser Flanierstraße mit hellen klassizistischen Fassaden, Schaufensterdekorationen wie aus den 50er Jahren und viel Goldstuck. Aus Moskauer Perspektive wirkt dies alles unendlich luxuriös. Hier gibt es Cafés, in die man einfach hineingehen und Kaffee trinken kann, in den Textilgeschäften gibt es Textilien, die Menschen haben feste Stiefel an den Füßen — ein Volk von Krösussen.

Mit dem Ende des Prospektes ist auch die Normalität zuende, und an die Stelle des kommerziellen Luxus tritt der politische Bekennermut. Dort beginnt die Barrikade, errichtet in der Nacht zum 13. Januar, als hier über 50.000 litauische Bürger standen, um den Obersten Sowjet vor den Panzern der sowjetischen Zentralregierung zu schützen. Diese hatten ihre Geschütze schon dem Gebäude zugewandt, in dem das frei gewählte Parlament in Permanenz tagte. Doch nach dem Gemetzel am Fernsehturm machten die Geschütze vor dieser Menge halt, ein zweites Tiananmen- Massaker vor den TV-Augen der Welt zu veranstalten, trauten sie sich offenbar nicht zu. Heute krönt die aus soliden Betonquadern gefügte Barrikade ein kreisrundes Durchfahrverbot für Panzer und Maschinengewehre. Darunter die klassiche Sentenz „Alea jacta est — die Würfel sind gefallen“. Hat man die Barrikade durch eine kleine Fußgängerpforte passiert, tut sich an Bauzäunen und Mauern rund um den großen Parlamentsplatz ein Panorama neulitauischer Kunst auf: Gedichte, Poster, Fotos von der Moskauer Solidaritätsdemonstration am Wochenende nach dem blutigen 13., witzige und trotzige Losungen, Collagen und Kinderzeichnungen. Auch Schlangen tauchen darauf wieder auf, diesmal symbolisch gemeint. Abwechselnd mit ihren Brüdern, den Drachen, verkörpern sie charmant das großrussische Imperium. Auf dem Platz selbst ertönt zarte, klassische Musik, die Bürger ergehen sich hier bei minus 15 Grad in strahlendem Sonnenschein an verschiedenen Kaffeebuden und wärmen sich an Kanonenöfen und harzduftenden Feuerchen. Überdachte Holzkreuze gemahnen an die von Panzern Zerquetschten und Erschossenen. Ein Ensemble von Baumstümpfen ist über und über bedeckt vom rotgoldenen Glanz der Armeeorden, die litauische Bürger verschiedener Nationalität von sich geworfen haben. Am Parlamentseingang prangt ein lebensgroßes Porträt Gorbatschows in Dschungelkämpferuniform mit der russischen Aufschrift: „Die ,Perestroika‘ hat er beendet, die ,Perestrelka‘ [den Schußwechsel] hat er begonnen.“ Daneben — auf russisch und litauisch — Plakate die zur Volksabstimmung am Sonnabend dem 9. Februar aufrufen.

Wird man die Wahllokale bewachen?

Außer der Roten Armee, die noch jeden Abend durch die Straßen patroulliert und „Verdächtige“ durchsucht, treiben hier noch eine Reihe rätselhafter paramilitärischer Gruppen ihr Unwesen, so die berüchtigten „Schwarzen Barette“ und ein Häuflein von etwa 35 Mitgliedern der Truppen zur besonderen Verwendung „Omon“. So kam es in diesem Monat schon vor, daß ein Abgeordneter eine ganze Weile mit erhobenen Händen auf der Straße verbringen mußte, daß „unbekannte Truppen“ zwei Postenstationen an der Grenze zu Weißrußland überfielen und daß ein Flugzeug der Roten Armee über einem litauischen Dorf eine Bombe „verlor“, die einen Futtersilo in die Luft sprengte.

Ljubow Tschornaja, die Chefredakteurin der unabhängigen Vilniusser russischsprachigen Zeitung 'Soglasie‘ (Übereinstimmung) fürchtet — allerdings nicht ganz im Ernst — ebenfalls eine Sprengung: Valerija Nowodworskaja, die Führerin der kleinen radikalen russischen Partei „Demokratische Union“ mit populistischem Charisma, ist nach Litauen geeilt, um den Litauern propagandistischen Beistand zu leisten. Man will Valerija ausgerechnet in Snjetschkus unterbringen, dem um ein Atomkraftwerk guppierten Städtchen, in dem die hartgesottensten KPdSU-Anhänger russischer Nationalität wohnen. Ljubow stürzt entgeistert zum nächsten Telefon: „Das können wir uns jetzt nicht leisten, daß auch noch dieses Ding in die Luft fliegt!“

„Wird man die Wahllokale bewachen?“ frage ich im Hauptquartier der Volksfront Sajudis am dem Parlament entgegengesetzten Ende des Prospekts. „Wozu?“ meint man dort. „Eine Kontrolle der Stimmauszählung führen alle möglichen Beobachter durch, unter anderem auch der moskautreuen litauischen Rest-KP, aber wir wissen nicht, vor welchen Bürgergruppen wir dies alles bewachen sollten.“ Eine zwar verspätete aber kluge Nationalitätenpolitik wird Sajudis und der litauischen Regierung wohl etwa 80% Jastimmen bei dieser Abstimmung sichern. In diesem Jahr wurde ein Gesetz beschlossen, demzufolge alle in Litauen ansässigen nationalen Minderheiten ein Anrecht auf kulturelle Souveränität haben. Eine Regierungsreform soll an die Stelle der alten — schematischen — Landkreise Verwaltungsbezirke setzen, deren Grenzen die Gebiete umschreiben, in denen mehr als 30% Polen oder Russen leben. Dort soll es dann zweisprachige Straßenschilder und zwei Amts- und Gerichtssprachen geben. Auch das Gesetz über den „Bürgerstatus“ wurde zugunsten der nationalen Minderheiten geändert.

„Wie können die Bürger Litauens so ruhig sein?“ frage ich Rimas Kotunas, den Vilniusser „Revolutionspsychologen“. Rimas therapiert überall dort, wo sich Spannungen und Ängste konzentrieren — zur Zeit im Innern des Parlamentes, wo noch täglich tausend zu allem bereite junge Männer wachen und auf Fensterbänken und Teppichen schlafen. „Am Abend des 13. Januar ist mir klargeworden, daß die Leute vor dem Parlament zwischen Leben und Tod gewählt haben, weil sie nie mehr so leben wollen wie bisher. Die Kraft dieser Entscheidung hält an. Und kleinlicher Fraktionsstreit scheint jetzt einfach unangemessen. Als sich die Menschen trotz Landsbergis' Appell weigerten, nach Hause zu gehen, hat ein Pater gesprochen und zum Schluß den 50.000 auf dem Platz die Absolution erteilt. Das war ein starker Abgang.“ Barbara Kerneck, Vilnius