Vielsaitige Stimmträgerin

■ Blanche Kommerells szenische Lesungen im Modernen Theater Berlin

Ihre Mutter muß ihre ebenholzschwarzen Haare im Blick gehabt haben, als sie ihr den Vornamen Blanche verlieh. Nichts Helles jedenfalls ist äußerlich an Blanche Kommerell zu finden — ist sie doch ein unauffällig südländischer, undeutscher Typ. Blanches Mutter, Ruth Kommerell, war zu dieser Zeit eine (nach Ost-Berlin) verrückte schwäbisch-spanische Mischung und eine berühmte Schauspielerin am Maxim Gorki Theater, die 1957 aus bis heute nicht durchsichtigen Gründen ihr Engagement verlor. Blanche, artverwandte Tochter ihrer Mutter, stand schon mit acht Jahren auf der Bühne (des Deutschen Theaters diesmal), blieb da bis 14, als sie ihr angehendes Multitalent auf dem Flügel, der Stimme und den Füßen entdeckte: schwankend zwischen einem Werdegang als Ballerina oder Pianistin bewirbt sie sich, weil sie vor allem Anne Frank werden möchte, um Aufnahme in der Schauspielschule, wo sie für zu jung befunden wird; sie wird abgelehnt.

In der Oberschulzeit lernt sie neben Staatsbürgerkunde Krankenpflege, ist dienend tätig, unter anderem als Kindererzieherin. Als ihr nach dem Abitur wieder einfällt, daß sie für das Theater geboren ist, stellt sie fest, daß sie schwanger ist. So entschließt sie sich zum Medizinstudium. Das hält freilich nicht lange an: nach Vorführung ihrer tastenübergreifenden Arpeggiokünste wird sie Studentin der Musikpädagogik und Germanistik. »Von meinem Germanistikstudium ist mir nichts in Erinnerung gebleiben, eine Dozentin, die Kafka las, haben sie weggeholt.« So bricht sie ihr Studium ab, hat mittlerweile zwei Kinder, arbeitet als Darstellerin in verschiedenen Defa-Filmen, nimmt, ohne daß sie eine Aufnahmeprüfung gemacht hätte, Schauspielunterricht am Berliner Ensemble. Jetzt oder nie, ist ihre Devise, das hilft ihr, sich am Pförtner vorbeizuschmuggeln, auch als man ihr schließlich das Haus verbietet, die Abschlußprüfung macht sie dann doch.

1974 ist sie in der DDR eine Berühmtheit. Wegen der ebenholzschwarzen Haare und der spanischen Großmutter hat sie die Jüdin in Frank Beyers Verfilmung von Jurek Beckers Jakob der Lügner gespielt. Mit und ohne Kinder erscheint sie auf den Titelseiten der Gazetten: Die Rolle bleibt ihr, sie bleibt die DDR-Jüdin und -Südländerin. Der schäumt freilich ihr Heißblut auch gelegentlich über: bei den Proben für Yerma von Garcia-Lorca fliegt sie, als sie eine Haarbürste nach dem Regisseur Friedo Solter wirft, aus dem Gastvertrag am Deutschen Theater hinaus.

Da kommt ihr die 750-Jahr-Feier zu Hilfe, am Schauspielhaus Berlin kann sie ihr Soloprogramm Berlin Salon präsentieren: Zum ersten Mal für die DDR stellt sie Rachel Varnhagen, Bettina von Arnim, Johanna Kinkel, Fanny Hensel und Clara Schumann als Autorinnen und Komponistinnen vor. Blanche ist all diese Frauen, liest, spielt auf dem Flügel und singt, bis das Programm von den Veranstaltern unter dem Vorwand des auslaufenden Jubeljahres kurzfristig abgesetzt wird. Blanche aber bleibt bei ihren Biographierekonstruktionen, bei szenischen Verlebendigungen von Personen, die ihr für ihre eigene Biographie wichtig geworden sind: Es gibt neben den Frauenprogrammen Abende mit und über Mozart, Büchner, Hölderlin, Kleist — wie vielleicht niemand mehr im Westen besitzt sie die Gabe der Hingabe, kann sie ein anderer werden, um sie selber zu sein. Frech und sanft, demütig und zürnend wandelt sie sich diese individualisierten Problemkonstellationen an, sucht nach den Knoten, den Knackpunkten, dem Haken, der in ihr eigenes Gewinde paßt. Über die anderen formuliert sie ihre eigenen Fragen, gibt sie an die Zuhörer weiter, fragt immer wieder, wo unsere Freiheit bleibt. Sie will aber auch in Erinnung rufen, Verschollene zum Reden bringen, so Inge Müller, Heiner Müllers Frau, deren Lebensgeschichte sie bis hin zu deren Selbstmord rekonstruiert. Sie sucht nach Inge Müller in deren Gedichten und Tagebuchaufzeichnungen, sucht nach Begründungen, zieht Heiner Müller zur Rechenschaft — und leistet schließlich eigene Trauerarbeit, da sie ebenfalls eines ihrer Kinder verlor.

Auch ihrem bekannten Großonkel Max Kommerell, dem zuletzt in Marburg lehrenden Germanisten, hat sie über Lesungen seiner Texte und über die Herausgabe zweier Bücher ein Denkmal gesetzt. Andere Textcollagen liegen als Hörstücke vor: so ein Programm zu Rahel Varnhagen und Bettina von Arnim. In ein Hörspiel mit Texten von Georg Büchner hat sie eigene Tagebucheintragungen aus den Jahren 89/90 eingewoben: Immer leben ihre Vorträge aus dem Spannungsverhältnis zu ihrer eigenen Person, zuletzt hat sie zusammen mit ihrem Mann Alexander Weigel im Modernen Theater Berlin den Max-Reinhardt-Schauspieler Alexander Granach, der als galizischer Jude 1934 von Berlin zunächst nach Moskau und später nach Hollywood emigrierte, anhand seiner Autobiographie Hier geht ein Mensch und seiner Briefe aus dem Exil vorgestellt. Heute abend wird sie wieder im Modernen Theater lesen: Sie stellte Else Lasker-Schüler mit Vielleicht ist mein Herz die Welt in Briefen, Gedichten und Prosatexten vor — und sich selbst natürlich, eine Frau, die durch zartkräftige Vitalität besticht. Michaela Ott

Heute, 20.30 Uhr: Else Lasker- Schüler, Donnerstag, 14.2.: 20.30 Uhr: Alexander Granach, Modernes Theater Berlin, Merseburger Straße 3.