IG Metall befürchtet einen »heißen Sommer«

■ Gewerkschaft legte Untersuchung über die Arbeitsplatzsituation in Berliner Metall- und Elektrobetrieben vor/ Im Ostteil werden über 47.000 Menschen gekündigt/ Im Westteil 5.000 Arbeitsplätze abgebaut/ Betriebsstillegungen befürchtet

Berlin. In der Metall- und Elektroindustrie von Großberlin werden in den nächsten Monaten über 50.000 Beschäftigte entlassen werden. Zu diesem Ergebnis kommt die Gewerkschaft IG Metall in einer Untersuchung, die gestern der Bezirksbevollmächtigte Manfred Foede vorstellte. Der gesamte Produktionsstandort Berlin sei »extrem gefährdet«, sagte Foede, »es drohe ein heißer Sommer«.

Besonders schmerzlich seien die Untersuchungsergebnisse für den Ostteil der Stadt, sagte der Gewerkschaftsvorsitzende. Durch die detaillierte Befragung von Betriebsräten und Geschäftsleitungen von Metall- und Elektrobetrieben habe sich herausgestellt, daß in diesen beiden Branchen zum 1. Juli dieses Jahres über 40 Prozent aller Beschäftigten entlassen werden. Von den noch im Februar beschäftigten 118.000 Arbeitnehmern werden 47.200 ab 1.Juli auf der Straße stehen. An diesem Tag läuft der im Sommer vergangenen Jahres tarifvertraglich vereinbarte Kündigungsschutz aus. In den 26 von der Gewerkschaft IG Metall befragten Großbetrieben liegt die Zahl mit 46 Prozent sogar noch höher. In der Ostberliner Elektro- und Metallindustrie wird also fast jeder Zweite stempeln gehen müssen.

Nach Ansicht von Manfred Foede tickt die »soziale Zeitbombe« insbesondere in den Bezirken Köpenick und Oberschöneweide. Im Werk für Fernsehelektronik werden über 5.000, im Transformatorenwerk 1.400, im Kabelwerk Oberspree 500 und im Funkwerk Köpenick 200 entlassen werden. Der Pressesprecher Detlef Kuchenbecker spricht gar von einer »Ruhrpottisierung«.

Aber auch im Westteil der Stadt werde es zu einem starken Abbau von Arbeitsplätzen kommen. Detaillierte Informationen über Personalreduzierungen lägen von 34 Unternehmen mit insgesamt 23.244 Beschäftigten vor. Jeder fünfte Arbeitsplatz in diesen Unternehmen, genau 4.865, sollen in diesem Jahr über die Klinge springen. Neben der Standard Elektrik (SEL), die 1.800 Arbeitsplätze vernichtet, gehören mehrere Siemens- und AEG-Betriebe dazu (rund 2.500 Arbeitsplätze) sowie unter anderen die Deutsche Babcock- Borsig (323), die Thyssen- Bandstahl (130), Nixdorf (179), J2T Video GmbH (163), und die Deutsche Vergasergesellschaft-Solex (180).

Insgesamt hätten sich an der Umfrage zur Beschäftigungslage in West-Berlin 93 Betriebe beteiligt. In diesen Unternehmen seien 72.000 der insgesamt 105.000 Arbeitnehmer der Westberliner Metallindustrie tätig. Da sich auch im Westteil sowohl die Betriebsräte als auch die Geschäftsleitungen an der Umfrage beteiligten, seien die Zahlen als »authentisch« zu bewerten. In 35 Unternehmen, mit einer Gesamtzahl von 28.171 Beschäftigten müsse mit einer Personalverringerung als Folge des geplanten Wegfalls der Berlinförderung gerechnet werden. Vier Betriebe, neben SEL auch Mecron, Thyssen-Bandstahl und Kabelmetall-Messing, planen laut Recherchen der Gewerkschaft, den Berliner Produktionsstandort aufzugeben, und weitere 18 Firmen planen Teilstillegungen.

Um diese Entwicklung zu stoppen, fordert die IG Metall eine »durchmischte Wirtschaftsstruktur« sowie Qualifizierungsgesellschaften und einen »Umbau der Berlinförderung«. Kurzfristig müsse ein »arbeitsmarktpolitischer runder Tisch« zur Abstimmung von Arbeitsmarkt- und Industriepolitik geschaffen werden. An die Ostberliner Treuhandanstalt appellierte Manfred Foede, die Betriebe sollten saniert und nicht um jeden Preis privatisiert werden. »Die Treuhand als staatliche Institution muß im öffentlichen Interesse handeln«, sagte Foede und weiter: »Sie muß die Betriebe wettbewerbsfähig machen, auch wenn hier Kosten entstehen.« Die Bundesregierung forderte er auf, den angekündigten Abbau der Berlinförderung solange auszusetzen, bis die Stadt und ihr Umland anderen Ballungsgebieten vergleichbare Strukturen entwickelt habe. Die IG-Metall-Befürchtungen über die gewaltige Kündigungswelle im Ostteil der Stadt und den Arbeitsplatzabbau im Westen teilt auch die Senatsverwaltung für Wirtschaft. »Diese von der IG Metall veröffentlichten Zahlen halten wir für realistisch«, sagte Pressesprecher Farnhorn. Der Berliner SPD-Vorsitzende Momper empfindet die Umfrageergebnisse »mehr als bedrückend«. Alle gesellschaftlichen Kräfte der Stadt müßten jetzt »mobilisiert werden, damit die Berliner Wirtschaft in Ost- und West-Berlin nicht stranguliert wird, bevor sie die Chancen der Einheit überhaupt erst nutzen kann«. aku