„Die Slumbewohner müssen Druck ausüben können“

Vor knapp fünf Jahren wurden vier Kapstädter Vorstädte brutal geräumt und 80.000 Schwarze obdachlos gemacht/ Jetzt bekommen einige der Opfer erstmals Entschädigung/ Menschenrechtsorganisationen und Selbsthilfegruppen fordern Wandel der Polizei im „neuen Südafrika“  ■ Aus Kapstadt Hans Brandt

In der Ecke schläft ein junger Mann, den Filzhut in die Stirn gezogen. Das hallende Gesprächsgemurmel im Foyer des Joseph-Stone-Theaters scheint ihn nicht zu stören. Etwa 20 Leute sitzen auf den Bänken, warten und unterhalten sich gelangweilt. Vor ihnen werden an acht Tischen Interviews geführt. Rechts, hinter einem Tresen, überprüfen zwei Frauen die Dokumente der Wartenden. In der ersten Wartereihe stellt gerade eine große Frau ihre Einkaufstaschen auf die Holzbank und bittet eine Nachbarin, kurz auf ihre etwa dreijährige Tochter zu achten. Sie pellt ihren Personalausweis aus einer Plastiktüte und geht zum Tresen.

Was hier in Athlone, einem Wohngebiet für Mischlinge bei Kapstadt, seit Anfang November stattfindet, ist Vergangenheitsbewältigung auf südafrikanisch. Die Leute sind hier, weil sie hoffen, Geld zu bekommen, Entschädigung für die Zerstörung ihrer Häuser. „Manche kommen her und versuchen, uns etwas vorzulügen.“ Phumza Bontshi ist eine der Frauen, die am Tresen eine erste Auslese machen. „Aber deshalb werden sie ja ausführlich befragt.“ Anspruchsberechtigt sind Bewohner von vier Slumsiedlungen bei Kapstadt, deren Hütten bei verheerenden Kämpfen mit rechten weißen Schlägertrupps im Mai und Juni 1986 zerstört wurden.

Innerhalb weniger Wochen hatten damals die „Witdoeke“ („Weißtücher“, nach den weißen Arm- und Kopfbinden, mit denen sich die Schlägertrupps kennzeichneten) mitten im Kapstädter Regenwinter Tausende von Hütten abgebrannt, ganze Siedlungen dem Erdboden gleich, 80.000 Menschen obdachlos gemacht. Mindestens 70 Menschen kamen ums Leben. Das war eine rücktsichtslos brutale Räumung eines Gebietes, in dem der Staat Häuser zur Erweiterung eines angrenzenden Schwarzenortes bauen wollte. Es war auch ein Versuch, die Slumbewohner zum Umzug in ein 30 Kilometer von Kapstadt entferntes Slumgebiet zu zwingen.

Dutzende von Augenzeugen — Journalisten, Betroffene, Parlamentarier, Geistliche — hatten die Polizei bei der aktiven Unterstützung der „Witdoeke“ beobachtet. Aber der Staatsanwalt weigerte sich, Anklage gegen die Polizei zu erheben. So beschlossen Menschenrechtsgruppen, selbst mit einer Zivilklage vorzugehen. 3.200 Familien, deren Eigentum zerstört worden war, forderten Schadensersatz von der Polizei.

„Dakuse, Esther“ steht in dem Personalausweis, den die große Frau am Tresen vorlegt. Bontshi blättert in einer Liste — Esther Dakuse gehörte nicht zu den ursprünglichen 3.200 Klägern. Aber sie hat wohl doch einen Anspruch auf Entschädigung. „Als ich im Juni 1986 von der Arbeit nach Hause kam, war die Luft voller Rauch“, erzählt sie. „Zum Glück hatten Freunde meine Kinder in Sicherheit gebracht. Und meine Hütte stand noch.“ Doch in der Nacht wurde sie vom nächsten „Witdoeke“-Angriff aus dem Schlaf gerissen. „Wir, mein Mann und ich, sind geflüchtet. Als wir zurückkamen, war alles verbrannt.“

Esther Dakuse hat eine neue Hütte in einer anderen Slumsiedlung gebaut. Sie ist arbeitslos, versucht aber, als Gemüseverkäuferin auf der Straße etwas zu verdienen. „Vielleicht habe ich ja Glück und kriege hier noch etwas Entschädigungsgeld.“

Mehr als etwa 600 Rand (etwa 350 Mark) kann sie nicht erwarten. Das Verfahren gegen die Polizei dauerte mehr als zwei Jahre. Dann erzwangen die enormen Kosten Anfang 1990 einen Vergleich. Die Polizei zahlte zwei Millionen Rand (1,16 Millionen Mark) in einen Entschädigungsfonds, Menschenrechtsgruppen sammelten zusätzlich eine halbe Million Rand zur Finanzierung von Entwicklungsprojekten in den Slumgebieten. „Seit November haben wir uns mit Radio- und Zeitungsanzeigen und Flugblättern bemüht, alle Entschädigungsberechtigten aufzuspüren“, erklärt Hugh Jagoe, Koordinator des Projektes. Aber die ursprünglichen Kläger sind in ganz Südafrika verteilt. Nur die Hälfte hat sich wieder gemeldet. Zusätzlich kamen aber noch mehr als 1.500 andere Betroffene zum Vorschein. Zwei Millionen Rand an mehr als 3.000 Leute zu verteilen — eine angemessene Entschädigung ist das nicht.

Und das wenige Geld, das die Slumbewohner erhalten, wurde vor Gericht erkämpft. Niemand weiß, genau, wieviel Entschädigungsmillionen Polizeiminister Adriaan Vlok und seine Vorgänger in den letzten Jahren an Opfer von Polizeigewalt gezahlt haben. Nur wenige Polizisten werden vor Gericht angeklagt. Und die Reformen von Präsident Frederick de Klerk haben die Sicherheitskräfte bisher kaum betroffen.

„Die Sicherheitskräfte leisten im großen und ganzen ausgezeichnete Arbeit“, meinte de Klerk statt dessen in seiner Rede zur Eröffnung des Parlaments Anfang Februar. „Die Verleumdung, der sie aus verschiedenen Richtungen ausgesetzt sind, verdienen sie nicht.“ Das flößt den Slumbewohnern wohl kaum Vertrauen in die Polizei des „neuen Südafrikas“ ein.

Jagoe glaubt, daß eine Entschuldigung für die Apartheid das mindeste wäre. „Die Buren müssen zugeben, daß sie nur auf Kosten der Schwarzen Fortschritte gemacht haben“, sagt er. „Sie müssen um Verzeihung bitten.“ Aber Verfassungsminister Gerrit Viljoen hat das Anfang Februar strikt abgelehnt. „Wir glauben, daß die zügige Abschaffung der Diskriminierung die beste Entschuldigung ist“, sagte Viljoen.

Von Wiedergutmachung der Schäden der Apartheid ist ohnehin im „neuen Südafrika“, in de Klerks Reformreden keine Rede — auch wenn Menschenrechtsgruppen immer wieder eine offene Auseinandersetzung mit der Geschichte fordern. „Die Slumbewohner sind in der Vergangenheit ständig herumgeschoben worden. Schon deshalb schuldet die Gesellschaft ihnen etwas“, sagt Jagoe. Denn für die Slumbewohner seien die bisherigen Reformen unbedeutend. „Die Abschaffung der Landgesetze und der Wohnapartheid bringt diesen Leuten absolut nichts“, sagt Jagoe. „Sie sind zu weit unten, sie werden nie die Mittel haben, auf dem freien Markt Land oder Häuser zu erwerben.“

So meint Jagoe, daß die Entwicklungsprojekte in Slumgebieten, die jetzt eingerichtet werden sollen, viel wichtiger sind als bloße Entschädigungszahlungen. „Die südafrikanische Regierung hat noch nie etwas freiwillig getan. Sie mußte immer unter Druck gesetzt werden“, sagt er. „Die Slumbewohner müssen jetzt in eine Lage versetzt werden, in der sie selbst Druck ausüben können.“

Er denkt an Schulung für den Umgang mit Verhandlungen; an den Aufbau funktionierender Selbstverwaltung; an die Einstellung unabhängiger Berater, so daß Slumsiedlungen im Interesse der Bewohner, nicht im Interesse des Staates, entwickelt werden können. Aber auch an Schulbildung, Gesundheitsberatung, Feuerwehrausbildung. „De Klerks Reformen werden das Leben dieser Leute nicht verändern“, sagt Jagoe. „Sie werden noch immer da sein, mit denselben sozialen und wirtschaftlichen Sorgen wie vorher.“