Tourismus: Der Krieg schreckt die mobilen Massen

Die Deutschen haben Angst vorm Fliegen/ Sanfte Radtouren in Heimatnähe oder bei den Nachbarn sind der Renner auf der Touristikmesse „Reisen '91“  ■ Aus Hamburg Michael Berger

Die Deutschen haben Angst vorm Fliegen. Nicht nur die Deutschen, auch die Amerikaner und Skandinavier, diejenigen Volksstämme eben, die sommers nach altem Brauch weite Wege zurückzulegen pflegen, um sich der Sonne alten Kulturen oder dem Abenteuer auszusetzen. Auf der Hamburger Touristikmesse „Reisen '91“ wird seit dem Wochenende über „schwere Einbrüche im Ferntourismus“ räsonniert.

Der Klientel, der bisher kein Flug zu weit, kein Landstrich zu entlegen sein konnte, ist angesichts irakischer Drohungen gegen den Luftverkehr mulmig geworden. Auch andere potentielle Kriegsverwicklungen schrecken die mobilen Massen: In den östlichen Mittelmeerraum will derzeit kein Schwein mehr fahren — Türkei-Reiseveranstalter melden, daß die Buchungen auf null zurückgegangen sind. Ingrid Ruppert, Pressesprecherin der Hamburg Messe, hat bemerkt, „daß sich die Deutschen neue Urlaubsziele aussuchen“, und ein luxemburgischer Reiseveranstalter weiß, „daß die Leute, wenn irgendwo Krieg ist, im Land oder in der Umgebung bleiben“.

Kriegsgewinnler sind also die heimischen und benachbarten Tourismuszentren. Die schleswig-holsteinischen Küstenorte vermeldeten schon im Januar bei den Buchungen zweistellige Zuwachsraten, in Dänemark wird im Frühjahr und Sommer jede Datsche belegt sein. Die aktuelle Fernreise-Zurückhaltung wird unterstützt durch einen Trend zu verändertem Ferienverhalten: Sanft wollen die BundesbürgerInnen zumindest in der Freizeit die umgebende Natur behandeln, vor allem wollen sie keine Betonsilos sehen.

Die konsequente Öko-Touristin schwingt sich auf den Sattel eines Fahrrads. Kaum ein Reiseveranstalter und kaum ein europäisches Fremdenverkehrsamt, das nicht Radreisen anbietet. Die Österreicher preisen ihre Donauroute Passau-Wien- Budapest (Gepäck wird von Hotel zu Hotel mit Bussen transportiert), die Schweizer überlassen die alten Kantonsstraßen und Wald- und Wiesenwege im Oberengadin (Silvaplana- St.Moritz-Zuoz) dem Radverkehr: „Die Radwege führen teilweise auch durch eingezäunte Weiden. Bitte schließen Sie immer die Durchfahrtstore.“

Das Luxemburger Fremdenverkehrsamt richtet einen Radrundkurs samt Infrastruktur durch das Fürstentum ein und wirbt: „Fahrräder können vorübergehend zollfrei zugelassen werden, falls sie augenscheinliche Gebrauchsspuren aufweisen und den Reisenden begleiten.“ Und selbst die Ungarn warten mit Tourenvorschlägen („Wildromantisches Börzsöny“) und Werkstättenhinweisen auf.

„Wollten Sie schon immer einmal was ganz ausgefallenes tun?“ fragt Horst Imken, Inhaber des „Verkehrsbetriebs Walter Imken, 2901 Wiefelstede/Oldenburg“, in seinem Prospekt. Für ausgefallen hält Busunternehmer Imken, persönlich anwesend am Stand 3029 in Halle 3 der „Reisen '91“, sein Angebot, Fahrradurlaub in Masuren zu verbringen. Dorthin, ins, Gott sei dank, ehemalige Ostpreußen, kutschiert Imken sieben Mal zwischen Mai und September jeweils 17 Menschen, die bereit sind, knapp über tausend D-Mark zu zahlen.

Irgendwo in der Puszta Piszka (altdeutsch: Johannisburger Heide) lädt er sie ab — nein, nicht irgendwo, sondern nahe dem Dorf Piaski, wo ein „einfaches, aber sauberes Hotel“ am See auf die Gruppe wartet. Ebenso warten siebzehn „nagelneue Dreigangtourenräder“, mit denen die Gäste auf Tagesfahrten von 40 bis 60 Kilometern durch die Masurische Seenplatte geschickt werden. Ein polnischer Reiseleiter, der auch Picknick-Pakete verteilt, ist immer zur Stelle.

Imken beugt bekannten Ängsten argumentativ vor: In Polen lasse sich vortrefflich friedlich urlauben, ein Übergreifen der baltischen Unruhen — Litauen ist nicht weit — sei nicht zu befürchten, es gebe nicht einmal einen Grenzübergang in die UdSSR.

Nicht in die baltischen Republiken aber immerhin in die Ukraine lockt die sowjetische Gesellschaft Intourist deutsche Fahrradtouristen. „Unbeschwerte Ferientage in einer unverdorbenen Landschaft“ verspricht der Katalog. In der Ukraine? In der Nähe von Kiew? An Stand 3027 versichert Boris Dianov, das Reiseziel liege in ausreichender Ferne von Tschernobyl, erhöhte Radioaktivität erwarte die Gäste in der Siedlung Ukraina wirklich nicht.

Dafür ein revitalisiertes Bauerndorf, dessen Katen mit Duschen und Toiletten aufgerüstet seien, unweit der Stadt Poltawa und des Flusses Dnjepr. Alles voll folkloristisch durchorganisiert: Eine Radtour führt 30 Kilomteter durch die Umgebung zu einer Stickereimanufaktur, eine andere zu einem Dorf „mit besonders sehenswerter Dorfkirche“. Rund 1.500 D-Mark kostet der Spaß, Einzelzimmer 400 D-Mark extra.

Alles doch zu friedlich? Neben dem Stand des Staatlichen Israelischen Verkehrsbüro drängen sich die Messebesucher, essen aus lauter Solidarität mit dem bedrohten Land „Kibbuz-Pfanne“ für gute 17 D- Mark. Die Reiseprospekte aber bleiben liegen. Ein freundlicher Herr räumt in hessischem Dialekt ein, daß die Strände von Tel Aviv und jene am Toten Meer, der Negev und die Altstadt Jerusalems in dieser Saison touristenfrei bleiben werden. Wer hat davon nicht schon geträumt, alleine in einem fremden Land unter Einheimischen? Und die El Al transportiert gerne auch ein Fahrrad.