Den Krähwinkel verlassen

■ Nach dem Ende des Kalten Krieges gibt es noch keine deutsche Außenpolitik DEBATTE

In seiner bisherigen Geschichte als moderner Staat hat Deutschland sich nicht gerade als Wahrer des Völkerrechts ausgezeichnet — im Gegenteil. „Nie wieder Krieg“ ist die nur allzu verständliche Schlußfolgerung aus diesem schlimmen Erbe. In der zweiten Nachkriegsepoche bestand dann weder für die Bundesrepublik noch für ihre Nachbarn ein großer Bedarf an konstruktiver deutscher Außenpolitik. Es reichte, wenn sie sich als verläßlicher Partner erwies, der zudem ja noch unter einer gewissen Kuratel der Alliierten stand. Wie nicht zuletzt die großen Friedensdemonstrationen der vergangenen Wochen beweisen, hat sich in dieser Zeit nach innen ein fest verankertes demokratisches Gemeinwesen entwickelt, in dem Öffentlichkeit und das öffentliche Austragen von politischen und sozialen Gegensätzen eine Selbstverständlichkeit bereits für Dreizehn- und Vierzehnjährige geworden ist.

Die Koordinaten jedoch, in denen wir bisher alle zu denken pflegten, haben sich durch die Umbrüche in Osteuropa, die De-facto-Auflösung des Blockgegensatzes und speziell durch die deutsche Wiedervereinigung geändert. Die Wiedervereinigung wurde einmal durch den festen Willen der DDR-Bevölkerung zum Selbstanschluß und zum anderen durch die Großmut insbesondere der europäischen Nachbarn möglich, die auf einen Friedensvertrag verzichteten, der ein für allemal die Nachfolgefragen des untergegangenen deutschen Reiches und seiner Schuld zu regeln hätte. Und dies geschah aus der Einsicht und Hoffnung, auf diese Weise werde es gelingen, auch die neue, vergrößerte, gewissermaßen 2. Bundesrepublik Deutschland fest einzubinden in den europäischen Kontext. Schon bald aber mußte man in Frankreich, Italien und anderswo feststellen, daß die Bundesrepublik zwar immer und überall Solidarität für sich einforderte, selbst aber herzlich wenig zu geben bereit war. Es sind gar nicht so sehr die Demonstrationen der Friedensbewegung, die Unwillen und Enttäuschung über die deutschen Zustände auslösen. Solche Demonstrationen sind auch dort in den anderen Ländern in mehr oder weniger großem Umfang zu verzeichnen. Wenngleich zwei Besonderheiten der deutschen Demonstrationen, die besonders unangenehm auffallen, nicht verschwiegen werden sollen. Da ist zum einen eine ausgeprägte, sonst in diesem Maße nirgends zu spürende Hysterie. So als stehe man selbst im Mittelpunkt des Krieges. Und da ist zum anderen, gewissermaßen auch als Resultat der außenpolitischen Inexistenz und der völkerrechtlichen Unerfahrenheit des Nachkriegsdeutschlands, eine ausgeprägte Ignoranz gegenüber der Frage: Wie steht es mit dem Pazifismus gegenüber einem kriegerischen Aggressor? In keinem anderen Land können die Vergleiche zwischen Saddams Einmarsch in Kuwait und München 1938 so unproblematisch vom Tisch gewischt werden wie hierzulande. So erklärt es sich, daß in allen europäischen Nachbarländern oft auch Leitfiguren der modernen pazifistischen Bewegungen in diesem Fall nicht nur nicht gegen den Krieg votierten, sondern für den Kriegseintritt. So geschehen in Holland, Dänemark und auch in Italien.

Was überrascht hat, und zwar unangenehm, das war die Prinzipienlosigkeit der politischen Klasse in Deutschland, speziell der drei Altparteien. Deutlich ist erkennbar, daß alle jegliches deutsches Engagement vermeiden möchten. Und es ist ja schon verwunderlich, daß trotz aller Treueschwüre zur Allianz jetzt auf einmal — wo es ernst wird — die Bündnisverpflichtung (gegenüber der Türkei, deren demokratische Qualitäten auf einmal auch aus den Reihen der CDU problematisiert werden; wer hätte das je zu hoffen gewagt!) in Frage gestellt wird. Einmal gesetzt, die Nato-Verträge verpflichten dazu, dann muß man schon so ehrlich sein und ihre Kündigung verlangen und nicht irgendwelche faulen Schlupflöcher suchen. Ebenso wurde im Ausland auch bei aller Sensibilität gegenüber der militaristischen Geschichte Deutschlands nicht begriffen, warum keine Grundgesetzänderung möglich sein sollte, die den Einsatz deutscher Soldaten als Blauhelme der UNO, also unter UNO-Oberkommando, erlauben würde.

Neutrales Deutschland — nicht wünschenswert

Die Welt hat die Bleikappe der Blockkonfrontation, die für Stabilität und Unterdrückung zumindest in der einen Hälfte der Erde garantierte, abgeworfen, aber noch keine neue Ordnung gefunden. Und in Europa hat Deutschland mit seiner Wiedervereinigung keinen geringen Part in diesem Drama gehabt. So ist es nur recht und billig, wenn jetzt verlangt wird, die Deutschen sollten auch einen konstruktiven Beitrag zu einer Neuordnung leisten — und sich nicht nur mit sich selbst befassen. Aber genau das war in der Zeit vor Ablauf des Ultimatums geschehen. Die Bundesregierung hatte kein Konzept, selbst ihr Reisekader Genscher hatte sich zur Ruhe gesetzt. Initiativen hinsichtlich der Krise am Golf gab es von deutscher Seite nicht. Das einzig Wahrnehmbare war: bloß kein trouble. Es entbehrt nicht der Komik, daß es eine christliberale Regierung war, die die BRD bis ganz nah vor die Schwelle zur Realisierung eines Traums der Friedensbewegung brachte: ein blockfreies, nicht in die Nato oder das westliche Bündnis eingegliedertes Deutschland. Nur daß das heute eine hoffnungslos vorgestrige Konzeption aus den Zeiten der Blockkonfrontation ist. Daß die SPD im Innersten ihrer Seele das immer wollte, hatten die Franzosen und Engländer schon lange begriffen, noch ehe es die SPD selbst erkannte. Insofern können auch die jüngsten SPD-Stellungnahmen nicht verwundern. Sie sind der korrekte Ausdruck des inneren Zustands einer Partei, die Demokratie im wesentlichen als Sozialstaat dekliniert. Ein neutrales Deutschland kann, wie auch ein nur oberflächlicher Blick in die Geschichte klarmacht, kein wünschenswertes Ziel sein.

Wie spiegelt sich nun Außenpolitik nach innen? So richtig es ist, Israel bei der Verteidigung gegen Aggressionen zu helfen, so darf diese Hilfe jedoch nicht unter Umgehung gesetzlicher Regeln geschehen. Sollte sich das als zu kompliziert und in der jetzigen Situation als zu langwierig erweisen, dann müßte zumindest das Parlament eine Ausnahme beschließen. Das würde die öffentliche Diskussion fördern — und damit auch die demokratische Meinungsbildung. Das Gute wird auch durch die Wahl falscher Mittel beschädigt. Nicht hingenommen werden kann, daß Entscheidungen, die Kernfragen unseres demokratischen Selbstverständnisses betreffen, aus bürokratischer Willkür getroffen werden. Was in der Bundesrepublik Deutschland fehlt, das ist eine zivile und demokratische Opposition — zumindest auf der Ebene der Parteien.

Das jetzige Verhalten, insbesondere der leicht angegrauten Friedensapostel, setzt eine ungute deutsche Nachkriegstradition der Linken fort: Im Konfliktfall entscheidet sie sich immer konservativ. Lieber der — vielleicht auch schlechte — Status quo als das Risiko von Wirren mit einem nur möglichen, aber nicht garantierten guten Ausgang. Das war so, als in Polen der Kriegszustand ausgerufen wurde; das war so, als es galt, Solidarität mit den übrigen osteuropäischen Bürgerrechtsbewegungen zu beweisen, und das ist heute wieder so. Ein Frieden, der um den Preis der Freiheit und der Gerechtigkeit erkauft wird, das ist nur ein anderer Name für: Diktatur. Davon können unsere europäischen Nachbarn, angefangen bei Holland, Dänemark oder Norwegen, ein Lied singen. Ein pazifistisches Deutschland ist gewiß hundertmal sympathischer als ein militaristisches, aber Pazifismus allein ist noch keine demokratische Gewähr.

Ungewollt hat auch die etablierte politische Klasse der Bundesrepublik ein Feld geräumt, auf dem sie bisher unanfechtbar schien: das der Einbindung in die westliche, demokratische Wertegemeinschaft. Ob die neue Bundesrepublik Deutschland ein verläßlicher europäischer Partner sein wird, das wird nicht zuletzt davon abhängen, inwieweit es gelingt, demokratisch den außenpolitischen Krähwinkel, in dem alle Parteien — die Grünen nicht ausgenommen — aus unterschiedlichen und doch so gut zueinander passenden Gründen die BRD so gern sähen, zu verlassen und die Zugehörigkeit zur Wertegemeinschaft der Demokratien zu verdienen. Ulrich Hausmann

Der Autor ist freier Journalist und Übersetzer in Hessen.