„Pervertierte Liebesbeziehung zu den Herrschern im Kreml“

■ Die Litauer sind vom Westen enttäuscht/ Sie demonstrierten am Samstag Geschlossenheit, das Votum ist aber noch kein politischer Druchbruch INTERVIEW

Der Historiker Juozas Tumelis, 52, Leiter der Abteilung für alte und seltene Schriften der Litauischen Nationalbibliothek, wurde vor vier Monaten zum Vorsitzenden der litauischen Volksfront Sajudis gewählt. Sajudis betrachtet sich nach wie vor nicht als Partei, sondern als Volksbewegung ohne festen Mitgliedsstatus, in der auch Mitglieder verschiedener Parteien aktiv werden können — auch Ex-Kommunisten.

taz: Wie soll es in Litauen nach der Volksbefragung vom letzten Samstag mit dem eindeutigen Votum für die Unabhängigkeit des Landes weitergehen?

Tumelis: Die Volksbefragung bedeutet noch nicht die Überschreitung eines Rubikon. Sie demonstriert nur noch einmal unsere Geschlossenheit und sollte vor allem dem Westen beweisen, daß unsere Bevölkerung sich in keiner Weise mit dem Gorbatschowschen Referendumsvorschlag anfreunden kann. Der Westen versteht dies nicht und hält an der etwas pervertierten Liebesbeziehung zu den Herrschern im Kreml fest.

Das klingt bitter. Aber auch in Litauen sind die Leute nicht kritiklos gegenüber Sajudis und der Regierung.

Richtig. Die Leute sind aber nicht vom Parlament, sondern von der Regierung enttäuscht, weil diese unter Frau Prunskiene Aktivität nur vorgetäuscht hat. Gleich nach der Unabhängigkeitserklärung hätte man eine Reihe von Gesetzen für Marktwirtschaft und für die Verwaltungsreform verabschieden müssen. Stattdessen ging es im alten Trott weiter, mit der alten Nomenklatura und Produktionsstrukturen.

Die Gesetze zur Lösung der Nationalitätenkonflikte in Litauen sind wegweisend. Warum sind die nicht früher gekommen?

Seit dem Jahre 1988 wurde gegen uns Propaganda gemacht. Lesen Sie unsere programmatischen Erklärungen von damals durch und Sie werden darin bereits alle Grundzüge unserer heutigen Nationalitätenpolitik finden. Sajudis war niemals eine Bewegung nur für Litauer. Aber immer noch werden viele Russen in unserem Lande erpreßt. Da sagt dann der der Werksleiter zu einem Arbeiter: „Wenn ich sehe, daß du dich mit dem und dem unterhältst, kannst du die Wohnung vergessen, für die du schon 20 Jahre auf der Warteliste stehst.“

Wie wird sich in Zukunft das Zusammenleben mit den Minderheiten gestalten?

Ich glaube sehr gut. Das ist einfach eine Frage der Zeit. Denn in dem Maße, in dem sich bei uns die Marktwirtschaft durchsetzt, wenn das Land privatisiert und die Betriebe in öffentlich kontrollierte Aktiengesellschaften umgewandelt werden, wird die kleine Schicht überflüssig, die jetzt diese Menschen unter Druck setzt und selbst nicht arbeitet, sondern nur absahnt.

Welche Rolle wird dann Litauen in internationaler Hinsicht spielen?

Bei unseren Nachbarn ist in dieser Hinsicht noch vieles unklar. Polen hat noch keine explizit formulierte Ostpolitik. Wir wissen noch nicht, wie lange Weißrußland im Verband der Sowjetunion verbleiben wird und schließlich auch nicht, welche politischen Kräfte in Rußland selbst siegen werden. Wirtschaftlich betrachtet, hängt unsere Beziehung zu Rußland davon ab, ob wir es schaffen, unsere Wirtschaft in den nächsten zehn Jahren umzustrukturieren. Wenn wir von der Schwerindustrie loskämen, die gewaltige Mengen von Metallen, Kohle und Öl verschlingt, stünden wir Rußland gegenüber souveräner da. Aber auch dann wird für uns kein Weg an Rußland vorbeiführen.

Interview Barbara Kerneck, Moskau