Radioaktive Schnappschüsse am Reaktor

Nach dem schweren Unfall im Atomkraftwerk von Fukui macht sich die japanische Atomindustrie Sorgen um ihre Zukunft  ■ Von C. Yamamoto und G. Blume

Tokio (taz) — „Was war los? Muß ich jetzt sterben? In der Schule wird von nichts anderem mehr geredet.“ Besorgt meldete sich der Mittelschüler aus Fukui gestern beim örtlichen Informationszentrum der Elektrizitätsgesellschaft.

Am Samstag hatte sich im Reaktor Mihama 2 von Fukui (Westjapan) der bisher schwerste Unfall in einem japanischen Atomkraftwerk ereignet. In der Schule hatten die Schüler eine Explosion gehört und „komischen Rauch“ vom Atomkraftwerk gesehen, der sich später als radioaktive Wolke entlarven ließ. Am Montag nun wollten die Kraftwerksbetreiber die aufgeregten Schüler beruhigen. Doch statt den Reaktorunfall zu erklären, schickten sie sie auf die übliche Besuchstour ins Kraftwerk. So hatten sie es schließlich auch mit allen Wochenendgästen getan. Noch während im Reaktor von Mihama 2 die Kernschmelze drohte, pilgerten fröhliche Besuchergruppen durch das Gelände der Elektrizitätsgesellschaft. Ihre Schnappschüsse von der radioaktiven Rauchsäule fanden sich am Montag in den Tokioter Zeitungen. Nur eine Frauengruppe hatte aufgrund der Ereignisse die Wochenendbesichtigung im Kraftwerk abgesagt.

Um die Menschen in Fukui waren die japanischen AKW-Betreiber bisher offensichtlich wenig besorgt. Doch um ihr Gerät schwitzten sie seit Samstag Angst. Krisenstäbe aller Art im Tokioter Ministerium und in den Elektrizitätsgesellschaften von Fukui und Tokio berieten über die technischen Folgen des Unfalls.

Der Rohrbruch im Dampferzeuger, die Ursache des Unfalls, konnte für die japanischen AKW-Sicherheitsexperten keine Überraschung sein. Ausgerechnet für den heutigen Dienstag hatten sie die vorübergehende Stillegung von zwei weiteren Atomkraftwerken ankündigen wollen, weil man dort, in den Reaktoren Ooi 1 und Takahama 2 von Fukui, beschädigte Rohre im Dampferzeuger überholen wollte.

Zur Verblüffung unabhängiger Experten entschieden die Betreiber nun, diese Überholungsarbeiten vorläufig aufzuschieben und die betreffenden Reaktoren weiter laufen zu lassen. Ein Sprecher der Kansai- Elektrizitätsgesellschaft erklärte, daß diese Maßnahme „ein Teil der Bemühungen zur Wiederherstellung des Bürgervertrauens sei“.

Die so Vertrauen wecken wollen, mußten sich am Sonntag selbst Mut zusprechen. „Ich hoffe doch, daß es ein kleiner Unfall war“, wiegelte der Sprecher der Tokioter Stromwerke ab. Am Montag antwortete Japans führende Tageszeitung 'Asahi Shinbun‘: „Aber es war kein kleiner Unfall, es war ein großer Unfall. Und deshalb wird es in Japan mit Sicherheit schwieriger, neue Atomkraftwerke zu bauen.“ Das ist nach dem Unfall die größte Sorge der japanischen Atomindustrie.

Denn gigantisch sind ihre Pläne. Bis ins Jahr 2010 wollen die Tokioter Atombosse zu den bestehenden 39 noch 40 weitere AKWs bauen lassen. Allein 27 neue Standorte sollen gefunden werden, um Japans Abhängigkeit vom Öl von heute 58 Prozent auf 45 Prozent des Energiebedarfs zu senken.

Nippon ist die letzte Industrienation, die die Atomindustrie bedingungslos nach Plan ausbaut und sich mit Wiederaufarbeitungsanlage und Schnellbrüter einen vollständigen „Brennstoffkreislauf“ aufbauen will. Wenn alles klappt, wäre Japan im Jahr 2010 die weltweite Nummer Eins in der Atomkraft. Bis zum Unfall von Fukui standen die Aussichten dafür nicht schlecht.

Erst vor zwei Wochen hatten die Elektrizitätskonzerne in einer gemeinsamen Kampagne mit der Regierungspartei (LDP) und dem Industrieministerium (MITI) eine wichtige Regionalwahl in Aomori (Nordjapan) gewonnen, wo die zukünftige Urananreicherungs- und Wiederaufarbeitungsanlage entstehen soll und ein Atommüllager geplant ist. War das nun ein Pyrrhus-Sieg? Schon heute veranschlagen die AKW-Hersteller für die Standortsuche eines neuen Atomkraftwerks ganze 20 Jahre. Auch in Japan ist der Widerstand vor Ort jedesmal heftig. Der Unfall von Fukui, so befürchtete man gestern im MITI, wird diese Suche nicht erleichtern.