Das „Verbrechen“ von Espenhain

■ Der Braunkohle-Industriekomplex Espenhain bei Leipzig, von den Nazis erbaut und von der DDR bis zum letzten ausgebeutet, muß geschlossen werden/ Beim hohen Besuch des „PSt.“ aus Bonn ist der Optimismus obligat, aber greifbar sind nur Arbeitsplätze zur Sanierung der Umweltschäden

Espenhain (taz) — 5.900 Arbeiter hat die Braunkohleverarbeitung in Espenhain vor den Toren Leipzigs einmal gehabt, 2.100 sind noch da. Es gibt eine Wahrheit, die hier jeder kennt, der parlamentarische Staatssekretär des Bonner Umweltministeriums, der gelernte DDR-Bürger Dr. Bertram Wiczorek, sprach sie überflüssigerweise vergangene Woche bei seinem Antrittsbesuch noch einmal aus: „Dieses Werk zu reparieren, ist ein aussichtsloses Unterfangen.“ Mit einer Entschwefelung oder Entstickung noch etwas retten zu wollen, wäre unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten sinnlos. Die Schwelerei ist schon schon stillgelegt worden — nicht aus ökologischen Gründen, da hätte sie noch eine Ausnahmefrist bis Dezember 1991 gehabt, sondern aus rein wirtschaftlichen Gründen: 900 Mark sind die Produktionskosten einer Tonne Teer in Espenhain gewesen, für 100 Mark gibt es sie auf dem Weltmarkt.

Aus einem politisch motivierten Streben nach nationaler Autarkie haben die Nazis 1938-44 den gigantischen Industriekomplex aufgebaut. Aus ihrem vergleichbarem Interesse hat die realsozialistische DDR die Kohleveredelung in Espenhain fortgeführt. Neben der Verschwelung rauchten hier zwei Kraftwerke und zwei Brikettfabriken, die die stark schwefelhaltige Braunkohle für den Hausbrand aufbereiteten.

1967 gab es eine „Ablösekonzeption“ für die Carbochemie, berichtet der Betriebsleiter Zichel. Aber der Ölpreis stieg, die Devisenknappheit verführte die DDR dazu, die Produktion wieder hochzufahren. Mittel, das Werk zu modernisieren, gab's nicht. Aus den alten Verschwelanlagen preßte die DDR-Planwirtschaft bis zu 520 Tonnen Teer pro Tag — auf Verschleiß.

Dem westlichen Besucher mutet das Werk heute wie ein Industriemuseum aus dem vergangenen Jahrhundert an. An dem Mauerwerk der Schwelerei fehlen im dritten Stock einige Meter der Klinkerwand, die müssen irgendwann herausgebrochen und einfach runtergefallen sein. Überall dampft und zischt es aus dem Rohrleitungssystem, das den Verbundprozeß der riesigen Produktionsanlagen vernetzt — nichts scheint mehr dicht zu halten. Von den 5.900 Arbeitern waren rund 2.000 — „erfindungsreiche Industriehandwerker“ — permanent mit notdürftigen Reperaturen der alten Anlage beschäftigt. Verottete Hütten, die man in der Dritten Welt Slums nennen würde, sind mit vergilbten Schildern „Aufsicht“ versehen. Dicke gelbe Rauchfahnen verdecken den Himmel — hier scheint die Sonne nur, wenn die Schlote abgestellt werden. Und wenn im Braunkohlewerk Espenhain Schnee fällt, dann bringt er den Kohlenstaub vom Himmel zur Erde zurück. Mit einer Handvoll frischem Neuschnee kann man sich die Hände in Espenhain nicht waschen, sondern nur schwarz verschmieren.

Der Staatssekretär aus Bonn findet in der Kontinuität des Werkes die Parallelen zwischen der Nazidiktatur „und der Diktatur, die darauf gefolgt ist“: Die Carbochemie ist aus der Isolation heraus entstanden. Aber das wollen die Werkvertreter nicht wissen. Der Werkleiter verbreitet mit Macht Optimismus. „Planmäßig“, erklärt er stolz den Journalisten, seien die Bodenuntersuchungen angelaufen, die das Umweltministerium finanziert. Und er hat schon eine unverseuchte Ecke auf dem Werksgelände ausgemacht, die für Gewerbeansiedlung ausgeschrieben wurde. Bahn- und Straßenanschlüsse sind vorhanden. Auch eine moderne Abwässerreinigung, die für Industrieansiedler besonders interessant sein soll.

Hoffnung auf ein Entsorgungszentrum

Die Rede ist aber nur davon, daß Kommunen an die Kläranlage angeschlossen werden sollen, eine Gemeinde von 40.000 Einwohnern würde die Anlage auslasten. Die eigentliche Hoffnung für die nächsten Jahre liegt weniger in der Ansiedlung neuer Produktionen als in der Entsorgung der gigantischen Umweltprobleme, die das alte System hinterlassen hat. „Entsorgungszentrum“ heißt das hoffnungsvolle Stichwort, bei dem klar ist, daß es irgendwie aus Bonn bezahlt werden muß. Ein privater „Schredder“ hat sich schon auf dem Firmengelände niedergelassen, der die in der Region überall abgestellten Trabi-Wracks entsorgen soll. Die größeren Aufgaben der Entsorgung werden derzeit erst analytisch erfaßt. Am Rande der Rückstandsdeponie etwa liegen drei idyllische Teiche mit öligem Wasser — Seen der flüssigen Teerstoffe, die aus der Deponie herausgesickert sind. In dem „Ökologischen Sanierungskonzept“, das unter Federführung des TÜV Nordrhein-Westfalen in den letzten Wochen erarbeitet wurde, ist Punkt eins die „unmittelbare Gefahrenabwehr“. Allein im Kreis Borna, in dem der Horizont rundum mit Schornsteinen aus der Braunkohleverarbeitung besetzt ist, betrug der Schwefeldioxid-Ausstoß 1989 691.000 Tonnen, 400 Tonnen Kohlenwasserstoffe gingen in die Luft, 134.000 Tonnen Staub. Denn in einem Gebiet von 6.200 Quadratkilometern konzentrierte die DDR hier chemische Industrie, Braunkohleverarbeitung und die Energieerzeugung. Die Umweltbilanz der DDR weist für diese Region 30 Prozent ihrer gesamten Luftschadstoffe, 31 Prozent der Gewässerbelastung und 50 Prozent der toxischen Schadstoffe aus. Unter den dringlichsten Projekten zählt das Bonner Umweltministerium die Versorgung der Säuglinge mit nitratfreiem Trinkwasser auf. Während das Ministerium stolz feststellt, daß die Abwasserkanäle Wolfen „zu vier Fünfteln repariert“ seien, muß es gleichzeitig einräumen, daß die Chemie-AG Bitterfeld/ Wolfen ihr Trinkwasser immer noch auf dem Werksgelände gewinnt. Die Hälfte aller Deponien seien „sofort zu schließen“, steht in den Begleitpapieren zum Besuch des parlamentarischen Staatssekretärs, in der Gegend befinden sich ökologische Zeitbomben mit wunderbar klingenden Namen: die „Hexakippe Antonia“, wo chlor- und teerhaltige Rückstände, Galvanikschlämme und Abfallschwefelsäure verkippt werden, die Grube Greppin, die sich in unmittelbarer Wohnnähe befindet, die als „Silbersee“ in Verruf geratene Grube „Johannes“ sowie die Altablagerungen im sogenannten „Titanteich“ und im „Chromteich“...

Wiczorek nennt es ein „Verbrechen“, was das SED-Regime an ökologischen Schäden an Natur und Mensch angerichtet hat. Und er bittet die Journalisten, kein allzu aussichtsloses Bild von der Zukunft der Region zu malen. Klaus Wolschner