Europa von unten

Ein Gespräch mit Rahim Burhan, Roberto Ciulli und Helmut Schäfer über das Roma-Theater „Pralipe“ in Mülheim  ■ Von Gerhard Preußer

Seit Januar diesen Jahres gastiert das Roma-Theater „Pralipe“ aus Skopje in Deutschland. Es wurde eingeladen vom Theater an der Ruhr in Mülheim, mit finanzieller Unterstützung des Landes Nordrhein-Westfalen. Neben Federico Garcia Lorcas „Bluthochzeit“ zeigte „Pralipe“ auch eine Inszenierung von Peter Weiss „Marat/ Sade“. Roberto Ciulli, der Leiter des Theaters an der Ruhr, will die Roma- Truppe fest in sein Theater integrieren. Gerhard Preußer sprach darüber mit ihm, seinem Dramaturgen Helmut Schäfer und Rahim Burhan, dem Leiter des Roma-Theaters „Pralipe“.

Gerhard Preußer: Welche Bedeutung hat das Theater „Pralipe“ für die Kultur der Roma?

Rahim Burhan: Wir spielen alle Stücke in Romanes. Viele Texte werden bei uns zum ersten Mal in die Roma-Sprache übersetzt. Wir haben bewiesen, daß man Sophokles genauso in Romanes spielen kann wie in allen anderen Sprachen. Das fand man erstaunlich. Daran haben wir wieder gemerkt, wie unbekannt unsere Kultur hier in Europa ist. Es hat uns sehr geschmerzt zu sehen, wie unsere Kultur hier in Europa auszusterben beginnt. Unser Ziel ist, die Roma-Kultur hier zu bestärken und der europäischen Bevölkerung den Sinn der Roma-Kultur zu zeigen.

Worin besteht die kulturelle Tradition der Roma?

Rahim Burhan: Leider gibt es keine geschriebene Geschichte der Roma- Kultur. Aber wir haben uns intensiv mit dieser Frage beschäftigt und sind zum Schluß gekommen, daß die Wurzeln der Roma-Kultur in Indien liegen.

Welche Rolle spielt das Theater innerhalb der Kultur der Roma?

Roberto Ciulli: Die Roma sind ein Volk, das seit tausend Jahren keine Möglichkeit gehabt hat, an den Fortschritten der europäischen Gesellschaften, in denen es lebte, zu partizipieren. Wenn man sieht, wie wenig Möglichkeit die Kinder der Roma haben, eine Schule oder gar eine Universität zu besuchen, dann kann man sich vorstellen, welche Chance die Roma haben, am Theaterleben zu partizipieren. Zwischen zehn und zwölf Millionen Roma gibt es in Europa, und es gibt nur ein Beispiel eines Roma-Theaters in den letzten zwanzig Jahren, und das ist das Theater „Pralipe“ in Skopje. Es gibt noch ein sogenanntes Zigeuner-Theater in Moskau, aber das hat sich auf Folklore spezialisiert.

Das Theater „Pralipe“ spielt auch in Deutschland in Romanes. Braucht das Theater nicht ein Publikum, das seine Sprache versteht?

Roberto Ciulli: Das Publikum muß eine Lust, eine Neugier haben, mit etwas, das es nicht versteht, zu kommunizieren. Darin sehe ich auch den Sinn für uns. Es gibt keine Grenzen mehr, ab 1992 können die Menschen sich frei entscheiden, wo sie leben und arbeiten wollen. Aber wie sieht im Europa der Zukunft das Verhältnis zwischen Mehrheit und Minderheit aus? Heute ist es völlig absurd, wenn die Politiker von einer multikulturellen Gesellschaft sprechen, während in Wirklichkeit die Menschen sich vom Osten bis zum Westen wieder die Köpfe mit der Keule einschlagen, weil sie die Probleme mit den Minderheiten nicht lösen können. Wie erreichen wir, daß die Minderheiten akzeptiert werden? Außerdem spielt in der Kunst, auch in der Kunst des Theaters, die logische Sprache nicht so eine entscheidende Rolle. Oft ist die Sprache ein Gefängnis und eine Barriere. Man glaubt, Sprache sei der direkteste Weg der Verständigung, aber dann geht man nicht in die Tiefe. Das Theater hat die Möglichkeit, eine andere Kommunikation in Gang zu setzen.

Helmut Schäfer: Wie kommt es, daß man innerhalb des Theaters Sprachen immer auf der Ebene des informativen Gehalts versteht? Niemand würde die Frage stellen, hat Picasso spanisch gemalt oder Magritte belgisch. Das ist unsere verfluchte deutsche, aus der Aufklärung kommende Tradition, daß man den Gehalt der Sprache für den Wahrheitsgehalt des Theaters überhaupt hält. Darum hinkt das Theater der Moderne schon der Moderne hinterher, weil es nie die Konsequenz gezogen hat, sich von dem vorgegebenen Sinn zu emanzipieren, nicht nur von den Auftraggebern und der Kirche.

Wie wollen Sie das Theater an der Ruhr zu einer multikulturellen Institution ausbauen?

Roberto Ciulli: Dieses Projekt verfolgen wir seit mindestens fünf Jahren. Wenn ein kleines Theater Erfolg hat, hat es die Möglichkeit, sich als große Stadttheater-Institution zu etablieren. Das war zum Beispiel der Weg der Berliner Schaubühne, das Piccolo-Theater in Mailand hat auch so eine Geschichte hinter sich. Wir haben uns gefragt, in welche Richtung wollen wir gehen? Seit sechs Jahren organisieren wir das Festival „Theaterlandschaften“, auf dem wir Theatergruppen aus Osteuropa in Mülheim vorstellen. Wir sind nach Jugoslawien, Griechenland, in die Türkei, nach Polen gegangen. Unsere nächste Perspektive ist ein zwei- oder dreisprachiges Theater, also eine multikulturelle Institution. Auf dieser Konzeption basiert die ganze Arbeit der letzten Jahre.

Warum haben Sie sich für das Roma-Theater entschieden?

Roberto Ciulli: Unsere Auswahl geht auf die Roma, nicht wegen der Roma-Problematik — das hat uns interessiert als politische Menschen, aber wäre das Roma-Theater „Pralipe“ ein schlechtes Theater, würde das Theater an der Ruhr nie mit ihm zusammen Theater machen. Es hat sich ergeben, daß dieses Theater sehr gut ist, daß es verwandt ist mit uns. Und es hat auch einen schönen politischen Sinn bekommen. Vielleicht müßte man sich überlegen, ob man nicht anfängt, Europa von unten zu machen, nicht von oben. Wir sehen, welche Schwierigkeiten es gibt, Europa zu machen zwischen Engländern, Franzosen und Deutschen. Aber bestimmt werden die sich viel früher verständigen als die Türken, die Deutschen und die Roma. Und deswegen ist unser kulturpolitisches Ziel, daß wir uns einsetzen für genau zwei Sachen, für genau zwei Arten von Theater, deren Sprachen unterrepräsentiert sind in Europa: Roma und — nächstes Ziel — das türkische Theater.

Ein additives Verfahren, drei Theater nebeneinander?

Robert Ciulli: Das wäre ein Theater mit einer künstlerischen Leitung für das ganze Theater und drei autonomen Regisseuren. Ob aus diesen Gruppen dann gemeinsame Produktionen entstehen, ist eine zweite Frage. Es geht auch um die Frage der Reform der Stadttheater in Deutschland. In einem großen Stadttheater gibt es immer weniger Möglichkeiten, Kunst zu produzieren. Das große Geld, das in dieses Theatersystem investiert wird, geht eigentlich in die falsche Richtung. Der Ensemble-Begriff ist heute völlig abstrakt geworden. Wenn sechzig bis siebzig Leute zusammen sind, dann ist das kein Ensemble mehr. Wir meinen, ein richtiger Weg zu einer Umstrukturierung der Stadttheater ist unsere Konzeption der autonomen Gruppen, die zusammen arbeiten und profiliert sind.

Sie wollen also anders vorgehen als Peter Brook, der Schauspieler verschiedener Nationalitäten zu einem Ensemble vereinigt hat?

Roberto Ciulli: Ja, da bin ich dagegen. Aber jeder soll machen, woran er glaubt. Das ist eine völlig andere Konzeption: Da wird eine Sprache festgelegt, Englisch oder Französisch, und dann versucht man, türkische oder jugoslawische Schauspieler in Französisch oder Englisch spielen zu lassen. Wir wollen einen anderen Weg gehen. Wir wollen der Minderheitensprache eine Plattform geben. Ich bin vielleicht ein anderer Mensch, ich freue mich viel mehr, ich werde lebendiger, wenn ich in einen Raum gestellt bin und höre etwas, das ich nicht verstehe. Dann werde ich lebendiger, neugieriger, das weckt mich auf.

Es gibt ein negatives Beispiel für solch ein Konzept, das türkische Theater der Schaubühne Anfang der achtziger Jahre. Was war dort der Fehler?

Roberto Ciulli: Ich glaube nicht, daß man in Deutschland ein türkisches Theater etablieren kann, wenn man nicht mit Schauspielern und Regisseuren arbeitet, die ihre Wurzeln in der Türkei haben. Das wäre so, als wenn ich, der ich jetzt seit 25 Jahren in Deutschland lebe, versuchte, hier italienisches Theater zu machen, und versuchte, in Deutschland Repräsentant für italienisches Theater zu sein. Das wäre sinnlos. Ich habe sicher meine Wurzeln in der italienischen Kultur, aber um wirklich wieder italienisches Theater zu machen, müßte ich erst wieder zwei Jahre in Italien leben, und dann könnte ich vielleicht wieder den Nerv der italienischen Kultur im Moment spüren. Deswegen bin ich gegen die Art, wie Giorgio Strehler meinte, europäisches Thater zu machen, und gegen diesen Export von Land zu Land. Ich kann mir im Moment nur vorstellen, Theater in dieser deutschen Gesellschaft zu machen. Ich kann nicht so arrogant sein und behaupten, ich mache wieder Theater für Italien. In diesem Widerspruch befinden sich für mich alle türkischen oder italienischen Theaterexperimente, die dann zu einer Gastarbeiterkultur herunterkommen. Es ich wichtig, daß es eine Gastarbeiterkultur gibt, daß sich Menschen mit Theater beschäftigen. Aber für ein zukünftiges Europa, in dem die Kulturen wirklich vermischt sein müssen, nicht integriert, ist es ganz wichtig, daß die Leute Theater machen, die wirklich aus diesem Land kommen, mit aller Widersprüchlichkeit.

Wird das Roma-Theater „Pralipe“ auch wieder in Skopje spielen?

Rahim Burhan: Ja, natürlich. Wir werden in den nächsten Jahren auch versuchen, Kontakt mit Rajasthan, der eigentlichen Heimat der Roma in Indien, aufzunehmen und dort eine Produktion zu machen, die wir dann hier in Europa zeigen. Wir wollen immer weiter zurückgehen zu den Wurzeln unserer Kultur, und das ist die indische Kultur. Ich werde versuchen, auf dem nächsten Weltkongreß der Roma darauf zu bestehen, daß der Begriff Roma ersetzt wird durch den Begriff „Indus“. Wir sind Indusi, nicht Sinti oder Roma.

Aufführungstermine des Roma- Theaters „Pralipe“ mit Federico Garcia Lorcas Bluthochzeit : 15.2.: Leverkusen, Erholungshaus; 19. und 21.2.: Düsseldorf, Schauspielhaus; 24.2.: Wolfsburg, Theater; 27.2.: Breda, Stadtsschouwburg