Hypochondrisch oder umweltkrank?

Die schwierige Diagnostik der Umweltmedizin/ Berliner Kongreß zeigt wachsendes Engagement der Ärzteschaft  ■ Von Manfred Kriener

Der amerikanische Krebsforscher G. Schrauzer träumt von einer großen Koalition aus Pfarrern, Lehrern und Ärzten, um die schleichende Vergiftung des Menschen zu stoppen. Eine Ludwigsburger Ärztin ging noch einen Schritt weiter: Sie forderte ihre Kollegen unumwunden auf, „die Akzeptanzverweigerung der Bürger zu organisieren“. In Ludwigsburg, so berichtete sie, haben inzwischen 360 Mediziner gegen den Bau einer Müllverbrennungsanlage protestiert. Mit Erfolg: Unter dem Druck der Ärzteschaft gingen die Müllpyromanen in die Knie.

In Baden-Württemberg, aber auch in Bayern und Niedersachsen machen die Mediziner zunehmend gegen die Müllverbrennung mobil, bis hin zu beispielhaften Positionspapieren und Risikoabschätzungen der Landesärztekammern. Engagement und Politisierung der Ärzte wachsen, so scheint es, fast genauso schnell wie die Anzahl der Umweltkranken. Da ist es fast schon selbstverständlich, daß beim Umweltmedizinkongreß am Wochenende im Berliner Kongreßzentrum ICC ein Greenpeace-Mitarbeiter (Michael Braungart) den Vortrag zur Müllverbrennung hielt. Und daß mit Max Daunderer und Hermann Kruse zwei der kritischsten Geister aus der Toxikologenzunft über den neuesten Stand der Verseuchung referierten.

Die Umweltmedizin gewinnt an Boden, aber sie kämpft immer noch um ihre Anerkennung als eigene Disziplin. An jeder Hochschule müsse mindestens ein Lehrstuhl für Umweltmedizin eingerichtet werden, „wenn wir den Wettlauf mit der Zeit noch gewinnen wollen“, gab Michael Braungart unter großem Beifall die Parole aus. Und der Berliner Ärztekammer-Präsident Ellis Huber verlangte endlich die Ausbildung und Berufsbezeichnung „Ärzte für Umweltmedizin“.

Das große medizinische Problem der Umweltärzte bleibt die Diagnostik. Das Dilemma fängt bei den insgesamt 100.000 Chemikalien an, die bisher in der Bundesrepublik zugelassen sind. Inklusive der Nebenprodukte zählte Braungart sogar eine halbe Million Substanzen. Bei den gegenwärtigen Analysemöglichkeiten könnten allerhöchstens zwanzig Prozent dieser Stoffe in der Umwelt überhaupt identifiziert werden. Von Ausbreitungsberechnungen und ihrem Einfluß auf die menschliche Gesundheit ganz zu schweigen. Selbst bei den Pestiziden gebe es für nur ein Drittel der Stoffe Analyseverfahren.

PCB als Lehrstück der Umweltmedizin

Zu den chemischen Unsicherheiten bei der Suche nach krankmachenden Stoffen kommen die medizinischen. Spektakuläre, unübersehbare Organschäden stehen meist erst am Ende einer manchmal jahrzehntelangen Aufsummierung von Umweltstreß durch Schadstoffe. Zuvor bleibt die Symptomatik über viele Jahre „unspezifisch“ und äußert sich in Müdigkeit, Kopfschmerzen, Schlafstörungen, Konzentrationsschwächen, Schwindelgefühlen, Übelkeit und allgemeinem Unwohlsein. Bevor der Arzt hier an einen ausgasenden Teppichboden oder andere Umwelteinflüsse denkt, wird er wohl eher auf „Hypochondrie“ tippen. Hinzu kommt, daß Umweltgifte eine Breitenwirkung auf ganz unterschiedliche Organsysteme zeigen. Die klinische Symptomatik einer Vergiftung kann selbst innerhalb einer betroffenen Familie stark voneinander abweichen. Der Heidelberger Nierenspezialist W. Huber zeigte die ganze Bandbreite am Beispiel der Vergiftung durch Pentachlorphenol (PCP) auf, das in Holzschutzmitteln, aber auch in der Textil-, Leder- und Farbindustrie verwendet wurde. Harnwegsinfekte, Halsentzündungen, Darmmykosen, Ekzemneigung, Chlorakne, Fruchtbarkeitsstörungen, Schilddrüsenadenome, gestörte Tränenproduktion, Gesichtsfelddeffekte sind nur ein Teil des ungeheuer variablen Symptomkomplexes.

Wie kann sich der Arzt bei dieser Symptomfülle überhaupt noch orientieren? Huber setzt bei der Suche nach diagnostischen Parametern, um Umweltbelastungen festzustellen, auf das Immunsystem als einem besonders empfindlichen Bioindikator. Andauernde Schadstoffbelastungen lassen sich zum Beispiel durch ein Absinken von Immunglobulin A feststellen. Immunglobuline sind in fünf Klassen unterteilte Antikörper, die als Abwehrwaffe gegen Erreger produziert werden. Die Klasse A übernimmt die Schutzfunktion an den Schleimhäuten, die unter dem Einfluß von Umweltgiften erheblich reduziert ist. Der veränderte Immunstatus zeigt sich aber auch an den (aus der Aidsdiskussion bekannten) T-Zellen. Deren Aktivität, die sich durch gezielte Stimulationsversuche messen läßt, war bei 89 Prozent einer Versuchsgruppe aus 54 pestizidbelasteten Arbeitern pathologisch vermindert, wie Huber berichtete.

Am Beispiel der PCP-Vergiftung zeigt sich auch, daß das Ausmaß von meßbaren Vergiftungen und körperlichen Beschwerden stark voneinander abweichen kann. Patienten mit viel PCP im Blut zeigen manchmal nur wenige Symptome und umgekehrt. Die Einwirkung von Cofaktoren wie etwa zusätzliche Dioxinbelastungen werden hier als Erklärung vermutet. Aber wie können die Dioxine festgestellt werden? „Welche Krankenkasse zahlt eigentlich eine Dioxin-Analyse?“ wies ein Teilnehmer auf die hohen Kosten von mehreren tausend D-Mark hin.

Pentachlorphenol ist beinahe so etwas wie eine Leitsubstanz der Umweltmedizin geworden, die Vergiftungen durch Holzschutzmittel sind bis heute das Lehrbeispiel geblieben. Nach dem viel zu spät ergangenen Herstellungsverbots für diese Chemikalie in der Bundesrepublik wird sie noch viele Jahre für erhebliche Probleme sorgen, zumal „die Franzosen mit der Produktion gar nicht mehr nachkommen“ und somit neue PCP-Probleme importiert werden.

Fruchtbarkeitsstörungen durch Holzschutzmittel

Aber auch die Altlasten bleiben akut. Der Oberhausener Umweltinformatiker D. Haake berichtete über bedenkliche PCP- und Lindan-Werte in einem Haus, in dem vor 14 Jahren (!) Holzschutzmittel verstrichen wurden. Angesichts der geringen Abbaubarkeit und breiten Anwendung „ist der Mensch diesem Stoff nach wie vor überall ausgesetzt“.

Eindrucksvoll beschrieb die Heidelberger Ärztin Heike Thuro Fruchtbarkeitsstörungen durch PCP. In ihrer Universitätsfrauenklinik wurden 90 Frauen auf PCP untersucht. In 22 Fällen wurden im Blut überhöhte PCP-Werte gemessen. Bei häuslichen Inspektionen seien daraufhin durch Probenanalyse von Hausstaub, von Teppichböden oder Holzverkleidungen die Emissionsquellen ermittelt worden. In zwölf Fällen konnte diese Quelle durch Umzug oder direkte Beseitigung ausgeschaltet werden. Als Folge sank nicht nur der PCP-Spiegel der Frauen um den Faktor zehn. Drei der zwölf Betroffenen wurden darüberhinaus schwanger und konnten sich ihren Kinderwunsch erfüllen.

Die Wirkungen von Umweltgiften auf Kinder war ein anderes zentrales Kapitel des Kongresses. Zwei vom Kieler Toxikologen Hermann Kruse genannte Zahlen sollen hier erwähnt werden. Die Belastung der Muttermilch mit der Chlorverbindung PCB (polychlorierte Biphenyle) führt nach neuen Untersuchungen ab einer Konzentration von 3,5 Milligramm pro Kilogramm Milchfett zu neurologischen Symptomen beim Säugling. Die durchschnittliche PCB-Belastung bei deutschen Müttern liegt gegenwärtig bei 1 bis 2,5 Milligramm. Bei Dioxinen ist die Konzentration in der Muttermilch so hoch, daß der Sicherheitsabstand zu den Konzentrationen, bei denen im Tierversuch erste Schäden sichtbar werden, gerade noch den Faktor zehn ausmacht. Kein Wunder, daß Muttermilchanalysen inzwischen für viele Eltern ähnlich selbstverständlich sind wie der Kauf von Strampelhosen und Pampers.