Neuer Kolonialismus

■ Weshalb ein Sieg über Saddam Hussein nichts bringt DEBATTE

Wie hat doch das Jahr 1990 so herrlich und verheißend begonnen — wie wär' doch alles so herrlich und verheißend weitergegangen, eine einzige Harmonie, die große vereinigte Demokratie von Wladiwostok bis Alaska und Friede auf Erden. Wenn nur das Scheusal von Bagdad nicht aus der Laune des Verrückten alles kaputtgetreten hätte... ein einziger Mann und über Nacht!

So liest es sich allgemein unwidersprochen. Und namentlich stellt nie die Überlegung sich ein, es könnte das eine mit dem andern, die Einigung des Nordens mit der Aufstörung durch einen starken Mann im Süden, etwas zu tun, es möchte gar das Erste zu dem Zweiten geführt haben. Der Augenblick zu einer Reflexion dieser Art scheint schlecht gewählt: Während dieser Text aufs Papier geht, hat die zögernde amerikanische Demokratie endlich Zähne gezeigt. Aber es mußte doch, so liest man in der Presse des Nordens, es mußte zum Krieg kommen, sonst frißt sich das Unheil immer weiter. Wenn einer keine andere Sprache versteht... Die Frage ist aber, welche Sprache er denn versteht, oder, genauer gesagt, wessen Sprache dieser Mann spricht. Die Sprache der nackten Gewalt, des Größenwahns — und auf diese ist nur mit Gewalt zu antworten, und durch die geeinten Mächte der Vernunft, zur Abschreckung all jener, die für ähnliche Gelüste anfällig sein könnten. Wer sich dieser Rede der Gewißheit widersetzt, muß als Feigling oder Spinner, jedenfalls als einer, der unfähig ist, aus der Geschichte zu lernen, aufgefaßt werden. Aufgefaßt und abgetan.

Es sei dennoch versucht — feig und versponnen, mag sein. Hier und jetzt aber dürfte es wert sein, wenn man etwas riskiert und zur richtigen Zeit einiges erwägt. Nämlich, es sei wiederholt: die Frage, was für Leute und welche Kollektive es denn sind, die dem — übrigens genau berechneten — Bramarbasieren des Mannes am Tigris Macht und Stimme geben.

Dann sind das halt lauter Verrückte, und denen muß man den Kopf zurechtsetzen; man muß ihnen sagen, was wahr ist und was sich gehört. Hier kann der Schreibende es nicht unterlassen, aus einer Erfahrung von Jahrzehnten heraus zu bemerken, daß er an dem, was von der etablierten Wahrheit und Gehörigkeit abgerückt, also ver-rückt ist, die Relativität aller Wahrheit und Gehörigkeit erfahren hat. Von den Hinweggerückten erfährt man manches, was die anständige Gesellschaft ahnt, aber nicht sagt. Genauso, wie jener schreckliche Saddam Hussein, mit dem doch niemand sich gern an denselben Tisch setzt.

Seine Sprache ist die Sprache derer, die auf ihrem Tisch nichts anzubieten haben. Weil sie nichts haben. Und daß er, im Gegensatz zu jenen, auf seinem Tisch etwas hat, das macht sein Fascinosum aus.

Über diesem Tisch beginnt das Problem Dimensionen zu zeigen, die es wert machen, daß man über sie nachdenkt, jenseits der Frage, wie böse oder wie verrückt der Diktator ist, der den Gang auf dem Weg zum großen, weltumspannenden Frieden so gröblich aufgehalten hat. Zu einem Frieden, der Freiheit und Sattheit, wenn auch noch nicht bringt, so doch verspricht. Saddam Husseins scheußliche Stimme, die sich im Süden gegen diesen bedrohlich geeinten Norden erhebt. Eine andere Stimme als diese kennt, scheint es, der Süden nicht — oder hört, so ist zu befürchten, der Norden nicht.

Aber der Norden verheißt doch nur das Schönste und Beste, was man sich denken kann: Demokratie, Gerechtigkeit... — Gewiß. Nur scheint es eine unerfreuliche Regel der Geschichte zu sein, daß jeder Wert seinen Preis kostet. Daß es aber — und hier beginnt die Fatalität der Regel sich zu zeigen — höchst selten die nämlichen sind, die den Wert genießen und dafür auch den Preis entrichten. Ungerechterweise zahlen meist andere. Besonders für solche Werte wie Sattheit und Demokratie. So kann die Feststellung auch nicht mehr lediglich dem Hinweis auf einen Zufall zugerechnet werden, daß in der Zeit zwischen den Weltkriegen nur jene Staaten sich Demokratie haben leisten können, welche große Kolonien in ihrem Besitz hatten. In jenen Regionen haben sie jedoch, ausnahmslos alle, Großbritannien gleich wie Frankreich, wie Belgien, die Niederlande, alles andere als demokratisch geherrscht. Als wäre es so notwendig gewesen; und anders nicht möglich, damit zuhause Demokratie zelebriert werden konnte.

Wie damals, so heute. Die Form des Kolonialismus hat sich gewandelt: Jetzt ist der Norden geeint. Und in diesem geeinten Norden trinkt man gern starken kaffe aus dem Süden, aber man bezahlt ungern viel Geld dafür. Man ißt gern ein feines Rindfleisch (aus dem Süden), es sollte jedoch wenig kosten. Man fährt gern auf guten Gummipneus (das Rohmaterial kommt aus südlichen Plantagen)... Man reist gern billig nach Kenya; nach Thailand und möchte was erleben...

Diese Länder sind zum Teil nicht immer so arm gewesen, wie sie heute sind. Der Norden wirft ihnen allen Mißwirtschaft vor. Als hätten sie anders vor der Wirtschaft des Nordens bestehen können. Da liegt die Quelle für das Elend sämtlicher südlicher Länder. Seit der bitterböse Kommunismus überwunden ist, wurde Wohlergehen zwar noch nicht erreicht, aber glaubhaft versprochen. Dem Norden versprochen. Dem Süden ist nichts versprochen. Versprechungen aller Art hatte er des öftern von den Sowjets im Nordosten bekommen. Ob sie gehalten wurden oder nicht — es waren Versprechungen und also Hoffnungen. Je hoffnungsloser ein Mensch lebt, um so mehr hört er auf Versprechungen. Die gibt es für sie sicher nicht mehr.

Nun kommt Saddam Hussein mit neuen Verheißungen. Im Norden spottet man darüber. Aber alle Ideologien, und die Religionen mit ihnen, lassen ebenfalls nur durch solche Verheißungen leben. Der Ruf „Demokratie“ trägt keine Verheißung mehr weiter, sobald er die Grenze nach dort überschritten hat, wo die Landschaft anfängt, südlich zu sein. Auch dann nicht, wenn er dort öfters beschworen wird. Dies weist notwendig auf ein weiteres Problem: Dort unten auf dem Globus, mitten im Süden, befindet sich der Staat Israel; als Außenposten der nördlichen Demokratien; als feindliches System mithin. Da dies nun so ist, wie es ist, geht es nicht mehr vorwiegend darum, ob die israelische Verwaltung in den besetzten Gebieten gut oder schlecht ist. Sie ist sehr schlecht. Sie ist so schlecht, wie alle Demokratien jahrzehnte-, zum Teil jahrhundertelang die südlichen Kolonien verwaltet haben. Woraus sich ergibt, sie kann anders nicht sein, was aber die oft berufene — und nachzuweisende — israelische Arroganz anbetrifft: Sie spiegelt nicht nur, sie ist die Arroganz der Norddemokratien gegenüber den unterentwickelten Ländern des Südens minus die Schulmeisterei der nördlicher Georteten. Nur ist es viel tragischer mit der unheilvollen Situation da unten. Unheilvoller und tragischer, als man im Norden weiß. Der Schreibende hat durch gute Zusammenarbeit mit palästinensischen Kolleginnen und Kollegen, die er auf der Westbank, in Ostjerusalem und Ramallah, versieht, aber nicht im sicheren Schutz des schweizerischen oder Roten Kreuzes, sondern (und absichtlich) unter dem Davidsstern, oft Gelegenheit zu erleben, wie jeder Riß mitten durch Palästina geht: aufgerissen zwischen denen, die dort in Gaza und in der Westbank etabliert leben und jenen, die daselbst in Lagern vegetieren. Wer auch immer schuld sein mag an dieser Situation, festzustellen ist: Saddam Hussein redet nicht für die Etablierten, er gibt denen Stimme, die in Lagern nicht nur gegen Israel, sondern gegen die eigenen Leute, sofern sie dort verwurzelt sind, ihre bitteren Gefühle laut werden lassen. Das ist alles so verworren, und der Ruf „Palästina“ taugt nur als zügiges Alibischlagwort für die, die aus der Ferne wissen, was zu tun ist. Hier unten sieht das Problem tragisch unlösbar aus. So tragisch, daß weder Menschenliebe noch Logik hilft. Sie machen beide nicht satt und geben auch keine Hoffnung darauf, daß man satt wird. Saddam Hussein, er mag ein Mörder sein, spendet Hoffnung und repräsentiert sie überzeugend durch sein eigenes Wachstum aus hoffnungsloser Herkunft. Das bleibt zu bedenken.

Der Norden hätte schon ein Mittel an der Hand, welches zu erproben wäre und ihm zumindest Gelegenheit böte, seine Ernsthaftigkeit gegenüber dem Problem des täglich tiefer aufbrechenden Grabens zwischen den beiden Himmelsrichtungen zu belegen: Wenn seine Wirtschaftsorganisationen beschließen würden, den Rindfleischpreis ums Doppelte anzuheben; den Kaffeepreis ums Fünffache, den Gummipreis aufs Zehnfache zu erhöhen — und dafür besorgt zu sein, daß die Erträge auch gewiß den Produzenten zukommen — dann wäre der Grund gelegt zum Sitzen um den gemeinsamen Tisch. Vorher bleibt alles, was sich „Gespräch“ nennt oder „Begegnung“, eine traurige Farce. Aron Ronald Bodenheimer

Der Autor ist Psychoanalytiker und lebt in Israel.