Das Kalkül der Tyrannen

■ Peking setzt darauf, die Demokratiebewegung in Reuige und Unbelehrbare aufzuspalten

Bis zu dem Moment, als gestern in Peking die Urteile gegen die vier „schwarzen Hände“ der demokratischen Bewegung verkündet wurden, war im Ausland noch nicht bekannt, daß der Prozeß gegen den 33jährigen Ökonomen und Journalisten Wang Juntao überhaupt schon begonnen hatte. Seit der Niederschlagung des Pekinger Frühlings kann die chinesische Führung wieder darauf bauen, daß sie weitgehend unter Kontrolle hat, welche Informationen „nach außen“ dringen. So sind BeobachterInnen der politischen Entwicklung in China auf Spekulationen angewiesen, wenn sie sich fragen, was die chinesische Justiz zu diesen Urteilen bewogen hat. Welche innenpolitischen Zeichen sollen mit „Milde“ oder „Härte“ des Strafmaßes gesetzt werden? Oder stand zu diesem Zeitpunkt die außenpolitische Wirkung im Vordergrund? Können und wollen die alten Männer in Peking damit rechnen, daß vor allem bei den wichtigen Wirtschaftspartnern USA und Europa nun der Eindruck entsteht, das Thema „Abrechnung der KP- Führung mit der Demokratiebewegung“ sei abgeschlossen?

Nach dem 4. Juni 1989 haben Schauprozesse, Hinrichtunge,massenhafte Inhaftierungen ohne Gerichtsverfahren und Verbannungen in Arbeitslager stattgefunden. Diese brutale Reaktion begründete die Pekinger Führung damit, daß es sich nicht um politische Dissidenten, sondern Kriminelle und „Gesellschaftsschädlinge“ gehandelt habe. Arbeiter, Angestellte, ChinesInnen, die sich bislang durch nichts hervorgetan hatten und die sich jetzt an Demonstrationen und Aktionen in Peking und in allen Teilen des Landes beteiligt hatten.

Demgegenüber wurden die seit Ende des vergangenen Jahres gegen Studenten und Intellektuelle geführten Prozesse explizit als „politische Prozesse“ geführt. Die Anklage für die jetzt verurteilten vier „Drahtzieher“ hatte auf „Verschwörung zum Umsturz“ gelautet. Mindeststrafe laut Gesetz: Zehn Jahre Gefängnis. Wie auch in den Verfahren der vergangenen Wochen lag jedoch die Begründung für die dann tatsächlich gefällten Urteile auf einer ganz anderen Ebene: „Reue“ und „kooperatives Verhalten“ gegenüber den Behörden wurden mit staatlicher „Milde“ belohnt, fehlende „Einsicht“ bestraft.

Der Studentenführer Wang Dan erhielt vor einigen Wochen „nur“ vier Jahre, der Literaturkritiker Liu Xiaobo und der Verfassungsrechtler Chen Xiaoping wurden freigelassen. Sie hätten die Behörden unterstützt, indem sie Namen anderer Dissidenten nannten, hieß es bei der Nachrichtenagentur Xinhua. Sie hätten öffentlich erklärt, ihren Irrtum nun erkannt zu haben, und den Behörden für ihre „Hilfe“ gedankt.

Es scheint, als ob das Verhältnis der alten Männer in Peking zur Justiz nicht im geringsten durch die chinesischen Diskussionen um die Entwicklung des Rechtssystems berührt worden ist. Ganz in der Tradition der chinesischen Herrscher scheinen sie zu glauben, daß sie durch „Großzügigkeit“ und „Milde“ ihren Untertanen signalisieren können, die Zentrale sei stabil und nicht mehr durch innenpolitische Unruhen gefährdet.

Diese Attitude der Herrscher, die sich nur in Zeiten des Chaos mit unnachgiebiger Strenge durchsetzen, aber in Perioden innerer Ruhe ihre Untertanen auf dem rechten Weg helfen, kann vor allem bei den Intellektuellen nicht mehr die erhoffte Wirkung zeigen. Die jetzt zu den höchsten Haftstrafen verurteilten Chen Ziming und Wang Juntao gehörten zu dem Kreis derjenigen, die sich als Elite und Träger der Reform — und damit der chinesischen Zukunft — begriffen. Rückzug ins Privatleben — oder der Versuch, mit allen Mitteln ins Ausland zu gelangen — das war nach dem ersten Schock des Juni 1989 die Reaktion vieler Aktivisten. Tatsächlich bleibt ihnen, und das haben einige auch oft ausgedrückt, nur das Abwarten: bis die vergreiste Partei- und Staatsführung den Weg alles Irdischen gegangen ist und diejenigen Parteikader, die unter Zhao Ziyang mit ihnen über Reformen diskutiert haben, es wieder wagen, den Mund aufzumachen. Jutta Lietsch