Urteile gegen Intellektuelle
: Pekings Justiz nimmt weiter Rache

■ „Drahtzieher“ der Demokratiebewegung vor anderthalb Jahren sollen sie gewesen sein, die beiden Wirtschaftswissenschaftler, die gestern in Peking zu 13 Jahren Gefängnis verurteilt wurden.

Die Welt schaut auf den Golf, derweil die Chinesen ihre Köpfe vollhaben mit dem bevorstehenden Frühjahrsfest und den Einkäufen dafür. Ein günstiger Zeitpunkt für die politische Führung in Peking, eine seit eineinhalb Jahren ausstehende Rechnung zu begleichen. Nach den Aktivisten der Demokratiebewegung vom Frühjahr 1989, die oft ohne Gerichtsverfahren oder nach summarischem Prozeß hingerichtet wurden, und nach den Prozessen gegen die studentischen Anführer ging es bei den Urteilen von gestern um eine neue Serie von Prozessen: gegen eine Reihe intellektueller Köpfe, die versucht hatten, auch die Reformdiskussion in der Kommunistischen Partei mit zu beeinflussen.

Der Ökonom Wang Juntao (38) und sein Chef am Pekinger Institut für Sozial- und Wirtschaftswissenschaften, der gleichaltrige Chen Ziming, werden beide als Drahtzieher der Studentenproteste angesehen und erhielten 13 Jahre Freiheitsentzug, außerdem wurden ihnen für vier Jahre „alle politischen Rechte“ — die Frage ist, was die in China wert sind — aberkannt. Der dreißigjährige Liu Gang bekam mildernde Umstände zugebilligt, weil er, so die Urteilsbegründung, „seine Verbrechen zugegeben“ und „Bereitschaft zur Reue“ gezeigt hatte. Dennoch wird er sechs Jahre im chinesischen Knast verbringen müssen, unter Bedingungen, die nach Aussagen internationaler Menschenrechtsexperten allen Kriterien von Rechtsstaatlichkeit und Menschenwürde Hohn sprechen. Wie wichtig dem Regime die Kollaboration der Angeklagten ist, zeigt besonders das vierte Urteil: Der 29jährige Rechtsprofessor Chen Xiaoping wurde freigesprochen, weil er sich selbst den Behörden gestellt und außerdem den „Willen zur Reue“ bekundet habe.

Alle vier waren schon vor dem Prozeß von den chinesischen Medien kriminalisiert worden: „Schwarze Hände“ wurden sie genannt, „Rädelsführer der schlimmsten Art“, die den Untergang von Partei, Regierung und Volksrepublik zum Ziel gehabt hätten. Chinas Nachrichtenagentur 'Xinhua‘, während des Prozesses schweigsam, lobte den Ablauf, kaum war das Urteil verkündet: den „öffentlichen Anhörungen“ hätten 200 Nachbarn und Familienmitglieder beigewohnt — und angeblich auch Journalisten, Studenten und Kollegen der angeklagten Universitätsdozenten. Tatsächlich ist die Prozeßwelle, die die chinesischen Behörden Anfang des Jahres in Gang gesetzt haben, für die Öffentlichkeit tabu, für unabhängige Beobachter aus dem Ausland gibt es keinerlei Zugang. Vertreter einer internationalen Menschenrechtsgruppe, die dabeisein wollten, hatte man kurzerhand des Landes verwiesen und sich jegliche „Einmischung“ verbeten.

Die Verteidiger der Angeklagten wurden immer wieder eingeschüchtert — so daß sich einige von ihnen schon vor dem Prozeß von den „Verbrechen“ ihrer Mandanten öffentlich distanzierten. Die engsten Familienangehörigen schließlich hatten die Behörden zum Stillschweigen vergattert. So bekommt die Öffentlichkeit in China statt Informationen lediglich die parteiamtliche Sprachregelung zu hören, die seit Prozeßbeginn in den Zeitungen ständig wiederholt wird. Auch die Urteile und ihre offiziellen Begründungen standen wohl schon vorher fest: Chen Ziming und Wang Juntao hätten „schwerwiegende Verbrechen“ begangen und „bislang keinen Willen zur Reue“ gezeigt. Während der Proteste der Demokratiebewegung hätten beide „einige Leute dazu aufgehetzt, die Volksregierung und das sozialistische System zu untergraben“. Als dann der Ausnahmezustand ausgerufen war, hätten sie „einige illegale Organisationen in Peking zusammengeführt und eine Serie von Aktivitäten unternommen, die Volksregierung zu untergraben“. Und was für das Urteil wohl noch schwerer wog: beide hätten den Widerstand gegen die bewaffneten Streitkräfte mitorganisiert, als diese „die öffentliche Ordnung wiederherstellen“ sollten.

Trotz dieser Terrorurteile wird es schwerlich zu einer erneuten internationalen Ächtung des chinesischen Regimes kommen. Partei- und Staatsführung spielen mit ihrer Prozeßwelle zwar auf Risiko, haben aber wohl kalkuliert: Schließlich ist die internationale Anti-Irak-Koalition im Sicherheitsrat darauf angewiesen, daß China auf sein Veto verzichtet. Die UNO-Resolution, die den militärischen Einsatz gegen Saddam Hussein legitimierte, war auch nur durch chinesische Enthaltsamkeit zustande gekommen. Auch haben die meisten Staaten ihre Sanktionen gegen China, die sie nach dem Tiananmen-Massaker verhängt hatten, längst weitgehend wieder aufgehoben — daß sie nun wieder aus der Schublade hervorgeholt werden, ist wenig wahrscheinlich. Auch Kredite der Weltbank und privater Bankenkonsortien fließen, Peking gilt wieder als salonfähig.

Kritisch könnte für die chinesische Führung höchstens die Reaktion aus Washington werden. Schließlich hatten die USA nach dem Panzereinsatz als ersten ranghohen Politiker ausgerechnet ihren Unterstaatssekretär für Menschenrechte, Richard Shifter, in die chinesische Hauptstadt geschickt. Er hatte den Chinesen noch im Dezember deutlich gemacht, daß ohne Verbesserung der Menschenrechtssituation auch die Beziehungen zu Washington nicht auftauen würden. In Kürze muß der US-Kongreß über die von Peking dringend gewünschte Meistbegünstigungsklausel im bilateralen Handel entscheiden. Der Astrophysiker und Dissident Fang Lizhi, der im vorigen Sommer nach einjährigem Asyl in der Pekinger US-Botschaft ausgereist war, fordert jedenfalls, China keinen Schritt entgegenzukommen, solange dort Terrorjustiz und Gesinnungsurteile an der Tagesordnung sind. Er findet im Kongreß offene Ohren, vielleicht sogar eine Mehrheit. Tony Wang, Peking