Verschwörungsmythos

■ Der sowjetische Ministerpräsident agitiert mit antiwestlichen Stereotypen KOMMENTARE

Mit seiner „Enthüllung“, westliche Banken hätten im letzten Januar den sowjetischen Markt mit Rubeln überfluten wollen, weshalb die Einziehung der hohen Rubelbanknoten eine Rettungsaktion in letzter Minute gewesen sei, bewegt sich der sowjetische Ministerpräsident Pawlow auf dem vertrauten Gelände der Mythenproduktion. Die Wahrscheinlichkeit, daß ein solches Manöver seitens westlicher Banker beabsichtigt war, tendiert gegen Null. Die Finanzkapitalisten haben ein dringliches Interesse an der Reform des sowjetischen Bankensystems — Voraussetzung jeder künftigen Plusmacherei in dieser Weltregion. Rubel zu horten, deren Kurs überdies fast täglich verfällt, würde jeder Rationalität entbehren. Pawlows Behauptung, mit dem „Rubel-Angriff“ sei beabsichtigt gewesen, in der Sowjetunion eine das politische System destabilisierende Hyperinflation anzufachen, ist eine für die Sowjetbürger allzu durchsichtige Aktion der Selbstentlastung. Schließlich waren es nicht die westlichen Banker, die den schreienden Widerspruch zwischen Geldmenge und Warenangebot in der Sowjetunion hervorgerufen haben.

Alarmierend an Pawlows Verlautbarung ist, daß der Regierungschef höchstselbst Verschwörungstheorien in die Welt setzt. Es wird die Existenz eines feindlichen leitenden Zentrums unterstellt, das, einer Krake gleich, vielarmig die Sowjetmacht erwürgen will. Theorien dieser Art gehören seit der Zeit, als die zaristische Ochrana das „Protokoll der Weisen von Zion“ zusammenbraute, zum eisernen Arsenal zuerst russischer, dann sowjetischer Herrschaftstechniken. Der Sieg der Oktoberrevolution hatte den Komplott-Fabrikanten nur scheinbar den Boden unter den Füßen weggezogen. Neben und unterhalb des Leninismus, aus dem schon deshalb keine Weltverschwörungstheorien abzuleiten waren, weil er die Ungleichzeitigkeit der kapitalistischen Entwicklung postulierte, blühten die Mythologeme weiter. Ob nun von der „Wall Street“ aus global die Fäden gezogen wurden oder die internationale zionistische Konspiration ihr dunkles Spiel trieb oder beides auf einmal — stets war der Verschwörungsmythos zur Hand, wenn es galt, Verantwortung für die Krise „nach außen“ abzuwälzen.

Die Wahnidee der internationalen Konspiration verschwistert sich bei den sowjetischen Reaktionären mit einem Bild des Kapitalismus, in dem die Farben der Dekadenz und Sittenverderbnis dominieren. Das traditionelle antiwestliche Stereotyp plus einem heruntergekommenen, pseudolinken Antiimperialismus. Ist's das, was vom „neuen Denken“ übrigbleibt? „Genossen Demokraten, warum habt ihr euch in die Büsche geschlagen?“ (Eduard Schewardnadse in seiner Rücktrittsrede) Christian Semler