Selters statt Sekt

■ Kündigt sich ein neuer sozialdemokratischer Siegertyp an? KURZESSAY

Als der sichtlich angeschlagene Walter Wallmann am Wahlabend in den überfüllten CDU-Fraktionssaal im Wiesbadener Landtag schlich, begannen die Kinnladen der alten Kämpen aus der Herrenriege Alfred Dreggers heftig zu arbeiten. Tiefsitzende Wut, ja Haß sprach aus den stummen Mannesgesichtern, während der völlig gedämpfte Wahlverlierer seinen breiten Abschiedssermon herunterspulte.

Für viele in der Union ist das konservativ-liberale hessische Bündnis nicht nur an den katastrophal verlaufenen Bonner Koalitionsverhandlungen, sondern auch und gerade an der Person des Regenten gescheitert, seiner von Anfang an spürbaren landespolitischen Unlust, den erschreckenden Absencen, durch die die Gerüchte über angebliche Entziehungskuren unnötig angeheizt worden waren.

Nach Barschel, Bernhard Vogel und Lothar Späth ist mit Wallmann wieder ein relativ erfolgreicher Konservativer als Landesfürst mehr über seine persönlichen Probleme als über die wahre Stärke der Opposition gestrauchelt.

Sprach's und köpfte ein Fläschchen Mineralwasser

Die konservative Presse heulte auf: „Die Jungen — wo sind sie?“ wehklagte 'Die Welt‘. Die CDU sei personell ausgetrocknet oder anders: sie werde momentan von den Ländern her „aufgerollt“. Vom Kanzler selbst sind nur zwei CDU-Politiker bekannt, die als Nachfolge-Wunschkandidaten gehandelt wurden: einer davon war jener Wahlverlierer von Wiesbaden; der andere sitzt im Rollstuhl. Ob Kohl nunmehr auch den Ehrgeiz besitzt, nach den Parteirivalen der eigenen Generation auch die erfolgreiche Enkelgeneration seiner sozialdemokratischen Gegner auszusitzen, wird in Bonner Kreisen eher bestritten.

Im Fraktionszimmer der nur mäßig jubilierenden SPD präsentierte sich derweil ein völlig unterkühlter Wahlsieger. Hans Eichel, bislang Kassels OB, eröffnete seine kurze Dankesrede an die Parteigenossen mit den Worten: „Ihr wißt, daß ich ein nüchterner Typ bin.“ Sprach's und köpfte ein Fläschchen Mineralwasser: „Wir wollen den neuen Weg.“ Das war's.

Von der landespolitischen Herrlichkeit der SPD ist noch nicht raus, ob sie doch nur der Scheinmacht der Demokratischen Partei der USA entspricht, die zwar fast alle parlamentarischen Gremien beherrscht, aber dennoch meilenweit von der Erringung der Präsidentschaft entfernt ist. Dagegen steht der Befund der 'Süddeutschen Zeitung‘: „Der Weg in die Opposition in Bonn geht über die Opposition in den Ländern.“ Gegen die Länder-Phalanx der SPD wirkt das konkurrierende Unionsaufgebot eher kümmerlich. Zudem weiß sich die Bonner Oppositionspartei im Vorteil, weil ihre neuen Spitzenkandidaten einen Stilwandel an politischer Kultur für die 90er Jahre anzukündigen scheinen. Nach dem Relativismus und der Maßlosigkeit der 80er Dekade ist nunmehr vorsichtige Orientierungssuche und die „neue Bescheidenheit“ angesagt.

Kandidaten wie Oskar Lafontaine, Björn Engholm oder Gerhard Schröder — der Frankfurter OB Volker Hauff gehört in die gleiche Kategorie — traten in den 80er Jahren gleichsam wie hedonistische Erneuerer der als ebenso protestantisch wie prüde-lustfeindlich beleumundeten alten Tante SPD an. So kokettierte Lafontaine mit seinem französischen Koch in der Saarländischen Landesvertretung in Bonn; Björn Engholm beschwor die Freizeit und den genußfähigen Menschen; Volker Hauff unterstrich noch in Zeiten virulenter Mietpreisexplosion und Wohnungsknappheit den kulturpolitischen Primat von Kommunalpolitik.

Jenem, mit der Einheit wieder ein wenig aus der Mode gekommenen Typus des west-egomanen Kulturchauvis pflegte Karl Heinz Bohrer im Dezember im 'Merkur‘ einen michelhaften Provinzialismus vorzuhalten. Auch wenn man die Umdeutung des Hauptstadtgezänks zum kulturellen Stellvertreterkrieg zwischen Provinz und Metropole als hochneurotische Stilisierung zurückweisen muß — ganz und gar trügt Bohrers Beobachtung nicht. Linkspopulistischen Authentizitätskitsch ließ sich Oskar gewiß an der Saar gegen Töpfer gefallen, als er mit den landsmannschaftlichen wie dialektalen Defizitäten (Stichwort: „Dibbelabbes“) des Gegners Wahlkampf machte wie weiland die Strauß' oder Filbingers. Landsecht gab auch der Kieler sein Jawort: „Wat mut, dat mut!“

Wahlsieger Eichel wirkt wie ein Stornierungsprogramm auf Lafontaine

Dagegen wirkt der hessische Wahlsieger Eichel in seiner Sprödigkeit eher wie ein Stornierungsprogramm auf jene Lafontaines oder Schröders, die sich gerne wie Gigolos der Einführung von Ästhetik und Sinnlichkeit innerhalb der SPD vorkommen. Gegen den weithin unbekannten hessischen Spitzenkandidaten mußten dagegen viele Yuppie-Klischees herhalten: Die taz sprach vom „Charisma eines gewissenhaften Chefbuchhalters“; der 'Spiegel‘ unterschätzte ihn drastich als sympathischen Looser-Verschnitt à la „Woody Allen“; Die Grünen beschmunzelten die nordhessische „Schlaftablette“ und zweifelten lange Zeit an seinem Erfolg.

Der Typus des Halb-68ers, des zähen, gestandenen Juso-Funktionärs der 70er Jahre wie professionellen Lehrers scheint nunmehr „in“ zu sein: Walter Momper war schon einer von ihnen, die nicht mehr als ausgesprochene Enkel Willy Brandts zu bezeichnen wären.

Der neue Typ ist eher ein verbissen auftretender Themen-Konkurrent als ein rot-grüner Überzeugungstäter

Eichel, der Neue in Hessen, und Rudolf Scharping in Rheinland-Pfalz, der nächste Kandidat, zählen zu dieser neuen Gattung. Man mag sie noch so sehr für Stockfische oder graue Mäuse halten, sie sind auf der Höhe der zu erwartenden Renaissance, wo eben nicht Gewerkschaftstraditionalisten à la Rappe, sondern solche ausdauernden Reformtechnokraten gefragt zu sein scheinen, die sich in rot- grünen wie sozialliberalen Bündnissen gleichermaßen wiederfinden; zudem haben sie der Hedonisten- Combo unter den SPD-Landeschefs vor allem jene vielgeschmähten Sekundärtugenden Kondition und Sitzfleisch voraus. Die Eichels, Scharpings oder auch Heidemarie Wieczorek-Zeul zählen eher zu verbissen auftretenden Themen-Konkurrenten als zu rot-grünen Überzeugungstätern. Den ehemaligen Juso-Spitzenfunktionären kamen Die Grünen eh nur wie dreiste Raubritter auf eigenem Terrain vor; was jedoch allenfalls bei der Pöstchenverteilung von rot-grünen Koalitionen zum Problem wird. Was wunder, daß sich die hessische SPD mit schwerem Geschütz — Ernst von Weizsäcker und Heide Pfarr! — in das koalitionsinterne Gefecht um die von den Grünen reklamierten Ministerposten — Umwelt und Frauen — begibt: Wo sich auf den ersten Blick als Lösungskompromiß nur die Geschlechtsumwandlung Rupert von Plottnitz' zur Justizministerin anzubieten scheint.

Übrigens: Jenem Stilwandel entspricht auch eine allumfassende Rehabilitierung des NRW-Regenten Johannnes Rau. Zu Zeiten seiner erfolglosen Kanzlerkandidatur wurde er gerne des spröden Protestantismus wie des rechten SPD-Traditionalismus geziehen. Weder das eine noch das andere Klischee stimmt so recht. Während Brandt wie Vogel Oskars Wahlkampf mitunter erheblichem Gegenwind aussetzten, bewies Rau angestrengt Loyalität und ausgleichendes Geschick. Heute repräsentiert er an der Parteispitze den Restposten an unangezweifelter Autorität. Norbert Seitz

Der Autor ist Redakteur der Zeitschrift 'Die Neue Gesellschaft — Frankfurter Hefte‘ in Bonn.