In Albanien droht Generalstreik

Übergangsregierung oder Rücktritt gefordert/ Versorgungslage verschärft sich dramatisch  ■ Aus Belgrad Roland Hofwiler

Nach den blutigen Ausschreitungen in der Hafenstadt Durres vom letzten Wochenende spitzte sich gestern die innenpolitische Lage in Albanien erneut zu. Dem vor einer Woche ausgerufenen Aufstand der Studenten schlossen sich erstmals Arbeiter und Bauern an. In der Provinzstadt Gjashte ruhe bereits das gesamte öffentliche Leben, meldete selbst der offizielle Sender 'Radio Tirana‘. In der Hauptstadt Tirana seien Tausende auf die Straße gegangen, um für die Beschleunigung des Reformprozesses zu demonstrieren.

Aus Kreisen der informellen „Studentenliga“ ist zu erfahren, man habe der Regierung Ramiz Alia bis Ende der Woche ein Ultimatum gestellt, auf den mehrmals vorgebrachten Forderungskatalog einzugehen, sonst werde man Bauern und Arbeiter zu einem landesweiten Generalstreik aufrufen. Die Bereitschaft dazu scheint gewachsen zu sein. Auch die kontrollierten Massenmedien geben zu, daß sich vor allem in den Gebirgsregionen die Versorgung dramatisch verschlechtert habe, selbst mit der Auslieferung von Brot und Milch habe man große Probleme, an Frischgemüse sei gar nicht erst zu denken. Während das Thermometer vielerorts unter Null fällt, gibt es in manchen Orten keinerlei Brennstoffe mehr.

Geht es vielen Albanern um das nackte Überleben, so klagen Intellektuelle darüber, daß man zwar viel über Demokratie spreche, doch nichts von ihr sehe. Seit Tagen schleppen sich zum Beispiel die Untersuchungen des Parlamentes hin, wie es zu den Zwischenfällen in Durres gekommen sei und ob es nun wirklich Tote gegeben habe oder dies nur „Propagandalügen des Westens“ seien, so das ZK-Organ 'zeri i populit‘. Die „Studentenliga“ beharrt darauf, daß Augenzeugen zehn Tote ausgemacht hätten.

Hatte Ramiz Alia letzten Freitag angekündigt, Armee, Polizei und Gerichte würden „bald“ dem Einfluß der KP entzogen werden, erläuterten hohe Spitzenfunktionäre in den letzten Tagen, die Worte des Genossen Alia seien nicht korrekt in den Medien wiedergegeben worden, erst wenn ein neues Parlament sich im Frühjahr konstituiert habe, könne man über dieses Problem sprechen. Angesichts dieser Äußerungen fordern seit gestern alle neuentstandenen Oppositionsparteien zusammen mit den Studenten, Alia solle entweder ein Übergangskabinett bilden, dem Parteireformer wie unabhängige Wissenschaftler angehören sollen, oder abdanken. Während die Demos noch liefen, meldete sich Ramiz Alia über das Fernsehen zu Wort. Er räumte schwere Fehler ein, bat aber gleichzeitig die lieben Landsleute, nicht einer Psychose zu verfallen und zu glauben, man könne die Probleme von einem Tag zum anderen lösen. Die Forderungen der Studenten wie der Demonstranten erwähnte er mit keinem Wort.