Volksbefragung auch in Lettland

■ Prosowjetische und einige radikale Unabhängigkeitsgruppen treten für Boykott ein

Riga (taz) — Mit 101 Ja- zu zwei Neinstimmen bei zwei Enthaltungen hat am Dienstag auch der Oberste Rat Lettlands beschlossen, dem vom Volksdeputiertenkongreß der UdSSR für den 17.März beschlossenen Referendum über den Weiterbestand der Sowjetunion mit einer eigenen Volksbefragung zuvorzukommen. Diese soll am 3.März durchgeführt werden, termingleich mit der estnischen Abstimmung. Die oppositionelle prosowjetische Fraktion „Gleichberechtigung“ hat sich an der Abstimmung des Parlaments über die Volksbefragung nicht beteiligt. Die Frage, über die in Lettland votiert werden soll, lautet: „Sind Sie für eine demokratische und staatlich souveräne Republik Lettland?“ Stimmberechtigt sind alle EinwohnerInnen, die 18 Jahre und älter sind und ihren ständigen Wohnsitz in der Republik haben. Im Unterschied zum estnischen Bürgerkomitee, das im letzten Augenblick seine Meinung revidiert hat und nunmehr zu einer Teilnahme an der Volksbefragung aufruft, hat in Lettland außer den moskautreuen Kräften auch eine Reihe von Organisationen, die die Unabhängigkeit der Republik anstreben — so das Bürgerkomitee, die Frauenliga und der radikale Flügel der Volksfront — mit einer legalistischen Argumentation zum Boykott sowohl des Referendums als auch der Volksbefragung aufgerufen. Für Unruhe sorgen Nachrichten über tatsächliche oder angebliche bewaffnete Vorfälle. Als Falschinformation hat die Rigaer Innenbehörde am Dienstag abend die Meldung des Leningrader Fernsehens bezeichnet, in der lettischen Hauptstadt sei ein Fahrzeug der „Schwarzen Barette“ unter Beschuß genommen worden. Autor dieser Nachricht war der Sensations-TV-Reporter Njezorow, der sich jüngst mit einem glorifizierenden Beitrag über die „Schwarzen Barette“ in Vilnius unrühmlich hervorgetan hat. Halbwegs echt scheint hingegen die Bombe gewesen zu sein, die am Dienstag abend vor dem Gebäude des ZK der KP Lettlands hochgegangen ist. Wie jedoch vor ein Gebäude, das nach Angaben der Partei jederzeit Angriffe von Nationalisten gewärtigen muß und deshalb entsprechend geschützt wird, ein derartiger Sprengkörper gelangen konnte, bleibt einigermaßen unklar und letztlich wohl das Geheimnis des Hausherren, KP-Chef Alfreds Rubiks. Dieser hatte sich am frühen Abend mit Vertretern der gemeinsamen Helsinki-Kommission beider Kammern des amerikanischen Parlaments zu einem anderthalbstündigen Gespräch getroffen. Die Bombe — ein für die US-Delegation inszeniertes Spektakel? „Die lettischen freiwilligen Ordnungshüter sind völlig unbewaffnet“, so verlautete es am Dienstag abend aus dem Führungsstab dieser Einheiten. Er reagierte damit auf Ausführungen, die der Vertreter der „Interbewegung“ in Estland, Lysenko, gemacht hatte. Dieser hatte erklärt, seine Organisation, in der sich vor allem konservative russischsprachige Bevölkerungsteile sammeln, verfüge ebenso wie die „Interfronten“ in Lettland und Litauen über bewaffnete Kampfgruppen. rob.