Ägypten zwischen Gleichgültigkeit und Protest

Noch gibt es in Ägypten keine Massendemonstrationen gegen den Krieg — doch wächst die Unzufriedenheit mit der Regierung/ Der Sicherheitsapparat erstickt jegliche Protestregung im Keim/ 20.000 sind derzeit unter den Notstandsgesetzen inhaftiert  ■ Aus Kairo Hal Wyner

Die erste ägyptische Anti-Kriegs- Aktion vergangenen Donnerstag in Kairo war vor allem dadurch bemerkenswert, daß mehr oder weniger nichts geschah. Hätten sich nicht rund 250 grüngekleidete Polizisten mit Helmen, Schutzschilden und Schlagstöcken vor dem abbruchreifen Haus der ägyptischen Arbeiterpartei stationiert, wäre nicht einmal den Nachbarn aufgefallen, daß sich an diesem Tag etwas Besonderes in ihrer Straße ereignet.

Geplant war ohnehin keine Massendemonstration. Unter den seit 1981 nach der Ermordung Anwar el- Sadats in Kraft getretenen Notstandsgesetzen sind öffentliche Versammlungen in Ägypten strengstens verboten, und die acht oppositionellen Parteien, die sich am Protest beteiligten, wollten den Sicherheitsbehörden keinen Vorwand bieten, ihre Anhänger reihenweise zu verhaften. So hatten sie beschlossen, jeweils nur einen Repräsentanten auf eine kleine Prozession drei Straßen weiter zum Palast des Präsidenten zu schicken, um dort einen Brief abzuliefern, in dem sie eine sofortige Beendigung des Krieges am Golf verlangten.

Gegen ein Uhr versammelten sich die acht Parteiführer in der Zentrale der Arbeiterpartei. In den Stunden davor waren etwa fünfzig ihrer Mitarbeiter am selben Ort eingetroffen. Diese begannen sich mit schwarzgekleideten Polizeioffizieren und den vielen geheimen Sicherheitsagenten vor der Tür — an den schwarzen Lederjacken und den aus den Taschen herausragenden Antennen ihrer Funkgeräte erkennbar — zu streiten. Ein Schlagstock wurde zweckmäßig eingesetzt. Von den Köpfen vier junger Männer tropfte Blut; einer wurde verhaftet. Zwei Autos, mit jeweils vier Politikern drinnen, fuhren weg. Die Polizisten mit den Helmen legten ihre Schutzschilde ab und verschwanden in Lastwagen. Passanten, die stehengeblieben waren, um das Schauspiel zu beobachten, machten sich wieder auf den Weg. In weniger als einer Stunde war alles vorbei. Was aus dem Protestbrief wurde, weiß keiner.

„Böser Einfluß“ der Massenmedien?

Somit bleibt Ägypten das einzige moslemische Land — außer den Golfstaaten freilich —, in dem seit Ausbruch des Krieges keine öffentlichen Kundgebungen gegen die amerikanischen Angriffe auf den Irak stattgefunden haben. Die Apathie der ägyptischen Massen wird von Führern der Opposition verschiedentlich erklärt. Al Said el-Mallach, stellvertretender Herausgeber der Arbeiterparteizeitung 'Al-Schaab‘, weist auf den „bösen Einfluß“ der staatlich kontrollierten Massenmedien in Ägypten hin, die sich darauf konzentrieren, Saddam Hussein zu verteufeln, und die unbequeme Frage, ob Ägypten sich an die Zerstörung Iraks beteiligen sollte, bewußt unerwähnt lassen. Hussein Abd el-Ghazik von der Progressiven Gruppe gesteht dagegen ein, daß die oppositionellen Parteien, die sich für einen Waffenstillstand und den Rückzug ägyptischer Truppen aus dem Golf einsetzen, ihren Mangel an Einfluß zu einem Großteil sich selbst zu verdanken haben.

„Unter Sadat waren wir stärker“, sagt Abd el-Ghazik, der zur Zeit des Attentats auf Sadat wegen seiner politischen Aktivitäten im Gefängnis saß. „Mubarak schaffte es, die meisten oppositionellen Parteien davon zu überzeugen, daß sie mehr erreichen könnten, wenn sie innerhalb des Systems arbeiteten. Somit haben wir unsere Glaubwürdigkeit verloren, denn die Massen in Ägypten haben kein Vertrauen in das System. Angst hat die Regierung nicht so sehr vor uns, sondern vor allem vor Kräften, die von außen kommen.“

Nach dem Verhalten der Regierung in den vergangenen Monaten und insbesondere seit Kriegsausbruch zu urteilen, scheint diese Angst auch groß zu sein. An den ägyptischen Grenzen werden Einreisende aus arabischen Ländern, deren Regierungen neutrale oder proirakische Neigungen zeigen — insbesondere Jordanier, Sudanesen, Tunesier und Palästinenser — regelmäßig abgewiesen. Sämtliche Touristeneinrichtungen, von den Pyramiden bis zum ägyptischen Museum in Kairo, sind aus Angst vor Terrorangriffen geschlossen worden.

Zahlreiche Mitglieder der illegalen aber bisher weitgehend geduldeten „Moslemischen Bruderschaft“ und der noch radikaleren „Islamischen Dschihad“, die Beziehungen zu fundamentalistischen Organisationen in der arabischen Welt und Europa unterhalten, sind in den letzten Monaten ohne Anklage oder Prozeß verhaftet worden. Laut Innenminister Generalmajor Mahamad Abd el-Halim Mousa liegt die Zahl der unter den Notstandsgesetzen Inhaftierten bei „nicht mehr als 20.000“. Gefängnisse, die seit der Ermordung Sadats geschlossen waren, sind heute wieder in Betrieb. Gerüchten zufolge liefern dennoch islamische Fundamentalisten in Oberägypten den Sicherheitsdiensten fast täglich neue Schießgefechte.

Der Ausbruch des Krieges scheint die allgemeine Gleichgültigkeit der Ägypter ihrem Präsidenten gegenüber kaum beeinflußt zu haben. Die Ereignisse am Golf werden mit großem Interesse verfolgt — wobei sich die meisten Ägypter bewußt sind, daß die staatlich kontrollierten Medien, die regelmäßig das baldige Ende des Krieges proklamieren, ihnen vieles vorenthalten, und sich vor allem auf das PLO-nahe „Radio Monte Carlo“, die arabischen Sendungen der BBC, CNN und zum Teil sogar auf israelisches Radio für Information verlassen. Doch sind die Meinungen, die sich daraus bilden, widersprüchlich.

Saddam, als politischer Führer, wird allgemein verpönt; auch wenn keine große Sympathie für die Kuwaitis vorhanden ist, wird die irakische Invasion und Plünderung ihres Landes verurteilt. Gleichzeitig herrscht Einstimmigkeit darüber, daß die Amerikaner den Krieg nicht führen, um Kuwait zu befreien, sondern um den Nahen Osten zu besetzen. Zudem wird die Zerstörung des irakischen Militärs als Katastrophe für die arabische Welt gesehen, denn somit verliere sie die Fähigkeit, sich gegen zukünftige Expansionsabsichten Israels zu verteidigen.

Spärliche Berichte über Israel

Die Schwierigkeit, der Regierung wie auch der Opposition die Richtung abzulesen, in die sich die öffentliche Meinung entwickeln wird, kommt nirgends deutlicher zum Ausdruck als in der Berichterstattung über die irakischen Raketenangriffe auf Israel. Die staatlichen Medien berichten nur spärlich darüber, aus Angst, daß Bilder von zerstörten Häusern in Tel Aviv Saddam Unterstützung einbringen könnten. Die oppositionellen Zeitungen fürchten dagegen, daß ausführliche Berichte von Angriffen auf die israelische Zivilbevölkerung Sympathien für den zionistischen Feind wecken könnte.

Je länger der Krieg am Golf anhält, desto mehr wächst die Gefahr, daß die allgemeine Unzufriedenheit über die wirtschaftliche Lage im Land sich in eine allgemeine Unzufriedenheit mit der Regierung und ihrer Politik auf jedem Gebiet verwandeln könnte. Um diese Gefahr zu bannen, machen die Sicherheitsdienste derzeit Überstunden, um jedes Zeichen von Protest in Keim zu ersticken. So wurde die Eröffnung von Schulen und Universitäten nach den Winterferien um zwei Wochen verschoben und die zusätzliche Zeit genutzt, um „linke“ Studenten, die Flugblätter gegen den Krieg vorbereitet hätten, zu verhaften. Einige Journalisten, die in ihrer Opposition zur Regierung zu weit gingen, sitzen ebenfalls wegen „Herausgabe von Statements, die Aufruhr im Volk fördern“, im Gefängnis.

Auch Menschenrechtsaktivisten, die sich gegen die Bombardierung des Irak äußern, werden unter Anwendung der Notstandsgesetze der Reihe nach aus dem öffentlichen Verkehr gezogen. Durch die Verhaftungen, die Zensur und eine Reihe von anderen Maßnahmen — Spiele der Fußball-Liga wurden zum Beispiel bis auf weiteres abgesagt, um Versammlungen, wo die Leidenschaften leicht außer Kontrolle geraten können, zu vermeiden — hat die Regierung es bisher geschafft, zumindest eine oberflächliche Ruhe im Land zu bewahren.

Als vergangene Woche Gerüchte über die Ankunft der ersten toten und verwundeten ägyptischen Soldaten aus Saudi-Arabien in Kairo zirkulierten — die Zahl 180 wird am häufigsten erwähnt —, konnte man eine merkliche Verschlechterung der Stimmung auf den Straßen wahrnehmen. Die Regierung beeilte sich, die Gerüchte zu dementieren: Keine ägyptischen Soldaten seien bisher am Krieg beteiligt gewesen, heißt es offiziell. Früher oder später wird jedoch der Bodenkrieg beginnen. Für das Regime am Nil wird es dann gelten dafür zu sorgen, daß dieser an der saudisch-kuwaitischen Grenze haltmacht.