Scheintote und Totgeschwiegene

■ Zwei Stücke zum Auftakt des Tanz-Winters im Hebbel-Theater

Hätte man in der Premiere der Comedia Tempio, die der ungarische Choreograph Josef Nadj mit dem Théàtre »Jel« aus Orléans erarbeitet hat, ein kunsthistorisches Lexikon dabeigehabt, man wäre aus dem Blättern nicht herausgekommen. Kannte man diesen über das Tischtuch rollenden Kopf nicht aus einem Bild Ensors, jenen Schatten des sich Erhängenden an der Wand nicht aus Goyas Caprichios? Allein im das Wiedererkennen der Bilderrätsel erschöpfte sich die suggestive Verführungskraft der Comedia Tempio nicht. Entgegen den in Mode gekommenen Zitatenrevuen und bewegten Bilderbüchern, begann der »Tanz-Winter« mit einem Stück ganz eigener Qualität, koproduziert vom Hebbel-Theater. Bedauerlich nur, daß die drei Spielabende hintereinander kaum reichten, mit dem hier unbekannten Namen Nadj mehr Publikum ins Hebbel zu locken.

Die nackten Hände der Tänzer ragten gierig und fast obszön aus den stets ein wenig zu kurz geratenen Anzugsärmeln; sie flatterten erregt, graptschen, wedelten. Einem Trupp von Sargträgern, Lumpenhändlern und Leichenfledderern glich ihre Schar. Tatsächlich schoben sie mit gemessenem Sadismus Scheintote auf einer Bahre hinein, die dann mit einer verzappelten und unkontrollierten Lebendigkeit, wie von den überdrehten Federn einer Spieluhr in die Luft geschnellt, gegen die Behandlung ihrer Körper als lebloses Ding revoltierten. Zwei Frauen, verschnürt in frühbürgerliche Kleider, wurden wie Bügelbretter herumgetragen. Männer schrumpften zu Zwergen, Frauen wuchsen zu Riesinnen wie in den Zerrspiegeln eines Panoptikums. Banale Objekte begannen, die Beherrschung der Menschen zu übernehmen. Die Anzüge wechselten ihre Träger. Ein Koffer machte sich selbständig. Klapptürchen spuckten die Tänzer auf die Bühne, nachgebende Wände verschluckten sie wieder. Ein Tisch lief weg. Wände kippten. Mitten in dieser sich steigernden Anarchie verbündeten sich die Menschen mit den unsichtbaren Drahtziehern der Katastrophe. Sie verkrüppelten sich selbst, degradierten sich zum Rädchen im Spiel der Verzerrungen und Deformationen und erkauften sich damit einen letzten Rest eigener Bewegungsfreiheit und die Unverletzbarkeit der Narren. Während die Augen des Zuschauers oft gebannt an den gewaltsamen Scherzen klebten, bahnte sich mit den fast versteckten Bewegungen des Zauberers in einer anderen Bühnenecke schon wieder der nächste Umsturz an.

Lebte dieses absurde Bewegungstheater von der magischen Verschiebung und steten Umformung der Bilder, so weckte Cornelia, von der Schauspielerin Rotraut de Neve und der Tänzerin Heidrun Vielhauer in Koproduktion mit der Hamburger Kampnagelfabrik inszeniert, zuerst durch die Collage der Texte Interesse. Zitate aus den Briefen von Cornelia Goethe an ihren Bruder Wolfgang und die Freundin Katharina skizzierten das Leben einer intellektuell interessierten und gebildeten Frau, der keine eigene Rolle zugestanden wurde. Der Bruder, erst ihr kindliches Spiegelbild, dann ihr Erzieher, konnte, während er an seiner eigenen Karriere als wortgewandter Autor bastelte, ihre der seinen so ähnliche Entwicklung nicht ertragen. Schreibverbot nahm ihr, die schon dem eigenen Körper als Instrument der Identifikation und Befriedigung entsagt hatte, jede Möglichkeit der Artikulation.

Zwischen zerrissenen Papierbahnen führten Heidrun Vielhauer und Rotraut de Neve Cornelia vor, die erst mit dem Bruder im Menuett die Rollen tauschte und dann jeder Möglichkeit eines Spiegelbildes und des Wiederfindens im anderen beraubt ward. Die Tanzschritte entwickelten sich dabei aus dem Schwung der Schrift; mit der Zensur ihrer Briefe wird Cornelia auch der Bewegungsraum und die Anmut genommen. Die beiden Darstellerinnen ersparten uns Hysterie und tragisches Pathos und blieben bei einem am historischen Material entwickelten, sparsamen Bewegungsvokabular. Nur der Schwung der schreibenden Hände, der einst den Körper in übermütigen Kapriolen und kleinen Sprüngen mitriß, wurde zur scharf exekutierenden und den Körper schmerzhaft umreißenden Gestik, als sollte mit jedem Handkantenschlag ein lebendiger Gedanke geköpft werden.

So begann der Tanz-Winter vielversprechend mit zwei überraschenden Inszenierungen. Sein Programm umfaßt neben den Gastspielen im Hebbel-Theater, die am Freitag mit Philippe Decouflés Triton fortgesetzt werden, eine Aufführungsreihe in der Theatermanufaktur (bis Anfang April), organisiert von der Tanzintiative Berlin und bestritten von den einheimischen Gruppen. Katrin Bettina Müller

Triton von Philippe Decouflés, heute um 20 Uhr im Hebbel-Theater.