Im Daseinskampf festgefroren

■ Das Neueste von »Holiday on Ice« in der Deutschlandhalle

Holiday on Ice« ist keine Show, »Holiday on Ice« ist ein Superlativ auf Kufen. Mit anderthalb Millionen Dollar pro Neu- Inszenierung ist die Eisrevue das weltteuerste Live-Entertainment. 1988 feierte das Unternehmen seinen zweihundertfünfzigmillionsten Besucher. Weltrekord! Nach zwei Einträgen im Guinness-Buch entdeckten die Veranstalter ihre Liebe für Zahlen. Vermutlich gibt es Angestellte, die das ganze Jahr über nichts anderes tun als zählen. Auch das Unzählbare ist vollständig durchgezählt, ausgezählt und weitererzählt. In der Jahresstatistik sind die Ergebnisse dieser Arbeit zusammengefaßt: Fünf Shows kreisen um die Welt. Pro Abend brauchen sie Rampenlicht über 500 Meter, um 3.750 schlittschuhlaufende Kostüme zu beleuchten, die mit 1.400.000 Pailetten und 600.000 Gramm Straß und 14.000 Meter Federn besetzt sind. Außerdem enthält jede Eisfläche genug Eis für eine halbe Million Scotch-on-the- Rocks, gesetzt den Fall, man rechnet drei Eiswürfel von etwa einem Zoll Durchmesser pro Glas. Zweifellos dienen solche Mitteilungen der Verwirrung des kritischen Publikums. Es wird durch sie von vorneherein in einen rauschartigen Zustand versetzt. Die Dimensionen dieser Show sprengen das Vorstellungsvermögen des einzelnen Scotch-Trinkers, das wird ihm vor Augen geführt.

Die Deutschlandhalle in den Müggelsee zu verwandeln, ist keine leichte Sache. Das Ausgießen, Glattstreichen und Festfrieren einer makellos jungfräulichen Eisfläche dauert drei Tage. Umso mehr schmerzt es, wenn gleich in der Eröffnungsnummer zwei Dutzend buntgewandete und kalt lächelnde Eintänzer in einem fort senkrecht auf den Boden springen, als wollten sie beweisen, daß diese Eisfläche nur dafür da ist, sofort wieder zerstört zu werden. Es gelingt ihnen auch innerhalb weniger Minuten, das schimmernde Hellblau völlig zu zerkratzen.

Wie man bald merken wird, gehört dieser Anfang zur neuen Dramaturgie der »Holiday«-Choreographen. Die sind ganz ungeheuer stolz darauf, die traditionellen Pfade der Eisshow verlassen zu haben. Gemeint ist die Bereicherung des Nummern-Programms durch eine aufregende Rahmenhandlung: Ein verrückter Professor hat eine Zeitmaschine erfunden, nimmt seine superkluge Assistentin und einen draufgängerischen Naivling an Bord und startet in die Zukunft. Zwischendurch verwechselt er auch mal die Hebel und donnert in die Vergangenheit. Seine Landeplätze wählt er mit Rücksicht auf Vollbeschäftigung der vierzig Ensemble-Mitglieder. Warum die Verwendung einer solchen Story für den Choreographen zunächst ein unwahrscheinliches Risiko bedeutete, wird ewig ungeklärt bleiben, zumal ihm weiter nichts eingefallen ist, als den »Zurück in die Zukunft«-Filmen hinterherzuschliddern. Wirklich neu sind in dieser Revue ganz andere Dinge. Röckchen zum Beispiel, die oberhalb des Steißbeins schon zu Ende sind und lauter ungenierte, wohlgeformte Hintern freilegen. Neu sind schlittschuhlaufende Schimpansen, die übrigens kleinen Kindern an Papas Hand geradezu erschreckend ähneln. Sie lassen sich wie jene willfährig mit gespreizten Beinen im Kreis rum beschleunigen und sind offenbar fest entschlossen, an dieser Haltung nicht das Geringste zu verändern, selbst wenn sie über die Bande hinausschießen würden.

Neu sind Pausenclowns, die sich nicht mit Torten bewerfen, Wasserbomben platzen lassen oder Geigen zersplittern, sondern die mit ihren Kufen auf ein Trampolin springen und dann Handstandüberschläge über hohe Gegenstände vorführen, in einer Geschwindigkeit, daß dem Publikum die Luft wegbleibt. Geschwindigkeit ist das offene Geheimnis der Show. Geradezu rasend vollziehen sich die Wechsel zwischen den Ausstattungsnummern und Akrobatik. Gerade noch war das Eisparkett bis an den Rand gefüllt mit Damen, die ihre gewaltigen Reifröcke auf dem Boden schleifen lassen und lächelnd vorübergleiten wie mit Eierkohle beladene Kutter, schon ist die Fläche leergefegt für den nächsten gefühlsgeladenen Solo-Auftritt. Es kostet nur ein kurzes, heftiges Knacken der 40 Riesenscheinwerfer und die 500 Meter Rampenlicht erstrahlen in neuer Farbe und Atmosphäre. Die Schnelligkeit der Wechsel ist für die Show lebenswichtig. Sie ist der Garant für die Überrumpelung des Publikums mit Gefühl und Technik. Im Unterschied zum klassischen Eiskunstlauf dürfen die Revue-Tänzer die Präzision ihrer Sprünge hier nicht zur Schau stellen. Das künstlerisch hohe Niveau ist Ehrensache. Allein auf das Gefühl kommt es an. Jedes Solo ist ein Hadern mit Einsamkeit und Tod, jeder »Pas de deux« ist ekstatisches Liebeswerben. Hier triumphiert das reine Pathos. Für die herbe Blondine Claudia Leistner, die jetzt als Gaststar die Nachfolge der DDR-Ikone Katharina Witt antritt, ist dieser Job offenbar der falsche. Die junge Mannheimerin absolviert Pflicht und Kür lässig und sichtbar ungerührt. Vielleicht findet sie das Ganze ein bißchen lächerlich. Vielleicht schämt sie sich jetzt schon dafür, den Vertrag unterschrieben zu haben. Diese Verstocktheit führt zu weiter nichts, als daß ihr amerikanischer Kollege Allen Schramm die gesamte Publikumsgunst abräumt. Der Mann läuft nicht nur Schlittschuh wie Hermes, er spielt jede Rolle mit restloser Hingabe. Jedesmal, wenn er in den Saal gleitet, wird die Kluft zwischen ihm und dem Ballett-Ensemble noch ein bißchen größer. Sie sind das Ornament — er ist der Star. Er ist die perfekte Mischung aus Highlander II und Gerard Depardieu: stark und unsterblich, tief innen die reine Sehnsucht. Er ist das eingelöste Versprechen der Revue.

Vielleicht die »Holiday on Ice« wirklich die einzige Revue auf der Welt, die dem ursprünglichen Zweck solcher Unterhaltung absolut treu geblieben ist. Sie handelt von nichts, sie erzählt nichts, sie macht keinen Sinn. Sie dient der »Beschäftigung des Publikums, das gegeneinander im Daseinskampf liegt«. Kracauers knappe Formel ist immer noch gültig. Das festzustellen, reicht ein Blick auf den Block der Ehrengäste. Im Leben gnadenlos verfeindete Fernsehprominenz grüßt sich hier milde im Vorübergehen. Auch Wolfgang Menge hat sich offensichtlich von dem Pitbull erholt, der ihm bei »Menschen, Tiere, Sensationen« glatt auf den Schoß gesprungen war (taz berichtete). Er saß wieder in der ersten Reihe. Der Versuch des kleinen Schimpansen, eben dort über die Rampe zu hechten, konnte leider gerade noch verhindert werden. Dose