Geld und gute Worte

■ Die Veranstaltungen des Antikriegstags der Berliner Theater zum 13. Februar im Überblick

Am Jahrestag der Zerstörung Dresdens protestieren am Mittwoch fast alle Berliner Bühnen außer der Schaubühne am Lehniner Platz mit einem Aktionstag gegen den Krieg am Golf. Die meisten verlasen einen Text von Christoph Hein mit dem Titel »Kein Krieg ist heilig, kein Krieg ist gerecht« (siehe Kasten) und veranstalteten Diskussionen mit dem Publikum vor oder nach der Vorstellung. Die Freie Volksbühne ließ diese sogar ganz ausfallen zugunsten des öffentlichen Dialogs, die drei Opernhäuser hingegen beließen es beim Geldsammeln für Unicef.

Deutsche Oper

»Schon für die Opfer des Golfkrieges gespendet?« Im Parkettfoyer der Deutschen Oper quittiert ein Besucher diese Frage mit einem verwirrten: »Wann, wo? Hier?« Die drei Opernhäuser Berlins sammelten, nach einigem hin und her über die Frage, ob sie überhaupt an dem Antikriegstag teilnehmen sollten, schlielich gemeinsam mit Unicef für die Opfer des Golfkrieges. Doch auf den Anlaß der Sammelaktion wurde äußerst sparsam hingewiesen. Während in den anderen Theatern der Text von Christoph Hein verlesen wurde, begnügte man sich in der Deutschen Oper damit, zwei lose Blätter ins Programmheft zu legen: Die Oper verurteile kriegerische Gewalt, stand auf dem einen Blatt.

Die Besucher durften raten, welche kriegerische Gewalt da wohl gemeint war. Auf dem anderen Zettel rief Unicef zu Spenden für die Kinder, »die Hauptleidtragenden« des Golfkrieges, auf. Da stand es tatsächlich, das Wort Golfkrieg. Im Foyer, wo Unicef unter einem blauen Sonnenschirm Karten und Briefpapier anbot, schenkte sich die Hilfsorganisation dagegen diesen Hinweis. Zur Freude der meisten Besucher: »Ballett ist im Augenblick wichtiger. Man kann tagsüber nachdenken, abends will ich mich entspannen.«ana

Schiller-Theater

Die Veranstaltung im Schiller-Theater hatte sich auf Wunsch der Intendanz der »Informationbeschaffung« verschrieben. Nach der Lesung des österreichischen Schriftstellers Peter Turrini versammelte sich im rotgeplüschten Foyer lediglich eine spärliche Schar um Ulrich Steinbach vom Deutschen Orient Institut aus Hamburg. »Wir wollen gemeinsam politisch denken«, eröffnete Vera Sturm die gepflegte, abgeklärte Plauderrunde und »Herr Steinbach, so erklären Sie uns doch einmal, hat Enzensberger recht in seinem Essay mit der Gleichsetzung von Saddam Hussein und Hitler?« Das Stichwort für den Abend war gefallen, Peter Steinbach konnte sein Wissen ausbreiten: Selbstredend argumentiere Enzensberger nicht wissenschaftlich und natürlich könne man Saddam und Hitler nicht gleichsetzen, da die Zeiten andere und schließlich sei Saddam — im Gegensatz zu Hitler — nicht »hausgemacht«, sprich vom eigenen Volk nicht gewählt, und überdies vom Westen aufgerüstet.

So weit keine überraschenden Thesen, die man beim Gläschen Sekt erfuhr. Eloquent wußte Herr Steinbach — »ich bin ja selbst so verwirrt, ich könnte glatt meinen Job an den Nagel hängen« — den Zuhörenden das »Trauma der arabischen Nation« nach dem Einmarsch der Amerikaner vermitteln. Überhaupt sei dies der Urgrund allen momentanen Übels: Eine Unperson sei Saddam in der arabischen Welt gewesen bis zum 8. August (dem Entschluß Präsident Bush, 250.000 US-Soldaten nach Saudi-Arabien zu schicken); jetzt sei er eine »messianische Figur«. »Saddam erscheint dem Muslim besser als die Amis.«

Bei solche klaren Antworten entfuhr dem Poeten Turrini eine unwirsche »Randbemerkung, die wohl aus dem Bauch kommt«: Die Motivsuche bei den jeweiligen Kriegsparteien sei ja interessant, aber letztlich habe dieser Krieg mit seinen Waffen eine Dimension angenommen, »die mir jedes Motiv scheißegal erscheinen läßt«. Als Ausweg gebe es nur die systhematische Ächtung jeglicher Waffenexporte des Westens in das Krisengebiet. »Wir führen hier eine veraltete Debatte über angebliche Ursachen: Die Bombe sprengt die Zeit und geht über die Motive hinweg.«nana

Die Distel

Gisela Oechelhaueser war zufrieden. Denn als die Intendantin des renomierten Ostberliner Kabaretts »Die Distel«, nach Vorstellungsende die Bühne erneut betrat, sah sie mehr als die Hälfte des Publikums wieder, das sich zuvor in ihrem Programm »Überlebenszeit« vergnügt hatte. Ein Programm, das unter dem Slogan »Jetzt geht sie los, die ganz große Feier, die Wessis hauen den Ossis in die Eier«, die Wunden der versammelten Ex-DDRler salbt. Neben den obligatorischen Kanzler-Witzen, über die man hier noch lachen kann, zeigt das Ensemble vor allem Sketche, die das redliche Bemühen der Neubundesbürger, gute Deutsche zu werden, vorführen. Nicht denunziatorisch, eher wohlwollend, Abwicklung, SED-Vergangenheit, Westgrundstücke, man ist schließlich selbst betroffen. Der Krieg am Golf bleibt als Thema der anschließenden Diskussionsrunde überlassen.

»Wir sind hier zusammengekommen, weil wir Angst haben« beginnt die Distel-Intendantin. Eine Ostberliner Lehrerin wehrt sich gegen den Vorwurf »Kinder zum Demonstrieren anzustiften«, Professor Moritz Mebel, Urologe, belegt mit statistischem Material den wachsenden Anteil ziviler Opfer in der Geschichte der Kriege und fordert den »sofortigen Waffenstillstand«. Erst als die feministische Friedensforscherin Bugewski-Crawford den männlichen Rationalismus als Ursache des Krieges geißelt, regt sich Widerspruch im Saal. Doch das Mißtrauen legt sich als sie das Vorgehen der Amerikaner am Golf, die »Mißachtung einer anderen Kultur«, mit der »rücksichtslosen Kolonialisierung der DDR« vergleicht.

Andre Bie, PDS-Vize und Philosoph, geht mit einem Grundkurs in Marxismus auf den wahren, den ökonomischen Charakter aller Kriege ein. Das sieht Dr. Loch, Friedensforscher von der Berghof-Stiftung völlig anders. »Dieser Krieg widerspricht aller ökonomischen Vernunft, auch der des Kapitals, er ist absolut irrational.« Der Nahost-Spezialist, Professor Claus Timm zweifelt an Husseins religösen Motiven und betont, »daß ein Embargo auf lange Sicht erfolgreich gewesen wäre, da es auch im Irak Leute mit wirtschaftlichen Interessen gibt, die sich des Diktators schon entledigt hätten«. Das wiederum ermutigt eine Frau im Saal, die Frage nach der Ermordung des irakischen Präsidenten zu stellen, »damit der Krieg schneller beendet werden kann«. Landesbischof Gottfried Forck findet diese Idee so absurd nicht, verweist auf Diedtrich Bonhoeffer und das Hitler- Attentat, kommt aber schließlich zu der Erkenntnis, daß man ja »nicht im Irak lebt und so sich etwas anderes einfallen lassen muß«.

Das Publikum findet mehrheitlich diese Idee verwerflich und fordert per Zwischenruf die Ermordung George Bushs. Der Friedensforscher Loch hält diese Variante ebenfalls für die »einfachere«, aber ein Vergleich Hitler-Hussein wäre für ihn fatal. »Dieser Vergleich ist ein trojanisches Pferd, denn gegen Hitler hätten die Alliierten den Krieg bis zur bedingungslosen Kapitulation führen müssen. Und wer Saddam mit Hitler vergleicht, muß auch dieses Kriegsziel als das für den Golfkonflikt gültige aktzeptieren.«

Man sprach über Kinderproteste, Mahnwachen, »die Möglichkeit, sein Auto stehen zu lassen« und fragte die Podiumsgäste nach ihren Angeboten. Der Landesbischof hat zusammen mit anderen Geistlichen einen Brief an Billy Graham, den religiösen Berater des amerikanischen Präsidenten geschickt und hofft auf eine ökumenische Delegation, die demnächst in das Krisengebiet reisen wird. Helmut Henneberger, DFF- Redakteur, spricht über seine Sendung Ozon und die Versuche von gewendeten Ex-DDR-Programmdirektoren unter dem Vorwurf des »Antiamerikanismus« kritische Beiträge über den Golfkrieg zu verhindern. Die gastgebende Intendantin, schließlich, beendet um fünf vor zwölf die Diskussion mit dem Versprechen, daß die Theater »im Geist des November« wieder verstärkt als Forum für politische Diskussionen zur Verfügung stehen würden, falls die Medien versagen.a.m.

Maxim-Gorki-Theater

Der 13. Februar, an dem die Bombardierung Dresdens und der bisher wohl größte zivile Schlag der USA gegen den Irak zusammenfallen, wurde von den Disputaten im Maxim-Gorki-Theater zum Anlaß genommen die behauptete Analogie dieses Krieges zum Zweiten Weltkrieg zu erörtern. Der FU-Politiologe Joannes Agnoli, die MedizinerInnen Both und Lang von der Initiative »Ärzte gegen den Atomkrieg« sowie die AutorInnen Gisela Kraft und Volker Braun waren sich jedoch einig, daß Saddam und Hitler nicht miteinander identisch sind. Dabei verdeutlichten vor allem Agnolis Beiträge, daß die extreme Ausdehnung des Krieges auf zivile Ziele zu einer Eskalation der ursprünglichen militärischen Absichten geführt hätte. Eine gewisse Aussichtslosigkeit ergäbe sich vor allem dadurch, daß der Kriegswille beider Parteien immer ungebrochener sich selbst reproduzierte. Für die beiden MedizinerInnen Bohn und Lang bestätigten diese Analysen eine neuerliche Form des totalen Krieges. Militärische Gewalt sei dadurch eindeutig als Mittel politischer Auseinandersetzung diskreditiert, darüber könnten keinerlei strategische oder völkerrechtliche Überlegungen und rechtfertigungen hinwegtäuschen.

Im Publikum wurden solche Positionen aber durchaus bezogen. Im besten Fall gingen hier einzelne Redner auf die notwendigen Differenzierung im Hinblick auf den Befreiungskrieg der Palästinenser und der Kurden, andererseits aber auch auf Israels Verteidigungs- und Existenzrecht ein. Eine fast paranoide Zuspitzung der Diskussion auf die Infragestellung jedes rationalen Argumentierens ob der notwendigen Entscheidung zwischen Leben und Tod gewann aber auch in der Publikumsrunde das Übergewicht. Interessant, wie in solch einer Situation der renommierte Schriftsteller Volker Braun, eigentlich als Hauptakteur des Gesprächs angekündigt, nach etwa einer Stunde erstmals das Wort ergriff. Auch Bundespräsident Weizsäcker wäre die Abweichung von den ursprünglichen Zielen der UNO-Beschlüsse nicht entgangen. Es fehle nur noch an der entsprechenden Umsetzung dieser Ablehnung der Kriegsentwicklung durch die offizielle Politik. Wie eine solche aussehen sollte, führte er mit der Lesung eines Gedichtes vor: Im weltweiten Wahnsinn, der eine Million Menschen und eine unbekannte Zahl von Zulieferern aus Politik und Wirtschaft gegeneinander postiert habe, rage einzig die heroische Tat des sowjetischen »Antonow«-Piloten heraus, der sich dem Einsatz im Spannungsgebiet als Transportflieger der Bundeswehr mutig verweigert hätte. Eine ideologische Ehrenrettung im Stil eines realsozialistischen Heldenkultes, den Braun in seinen früheren Texten gerade attakiert hat.

Ein Modell kritischer Politik aber wurde nicht entwickelt. Immer wieder verwiesen Kraft und Agnoli auf das Scheitern der UNO, die eine Friedenspolitik einzig hätte realisieren können. Schuld daran sei vor allem die politische Erpreßbarkeit des ökonomisch maroden Ostens durch die USA, deren Hegemonialanspruch zurückzuweisen ein berechtigter Antiamerikanismus sei. Der politische Flurschaden, der dadurch in der arabischen und israelischen Gesellschaft entstehe, sei nicht auszudenken. Vor allem Kraft verwies dabei auf die fundamentale Unkenntnis der irakischen Mentalität, die der eigentliche Grund für die fatalen militärischen Durchhalteparolen des Diktators sei.thomas schröder

Volksbühne

Auf dem Podium in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz sprach der FU-Konfliktfoscher Ulrich Albrecht von den Fernsehvölkern, die »sehenden Auges schweigen« und warnte vor den unabsehbaren Eskalationsfolgen, die es hätte, wenn Saddam eine Milliarde Moslems hinter sich bringen würde. Die Soziologin Ulrike Wasmuth stellte dem islamischen Fundamentalismus einen westlichen gegenüber: den Dualismus, der kein »Zwischen« jenseits der Gegensätze von Freund/Feind, gut/böse, entweder/oder, richtig/ falsch usw. zulassen würde. Saddam sei die Antwort auf die ver-rückte Welt westlicher Vernunft und der Krieg sei nur die logische Konsequenz patriarchaler Friedlosigkeit.

Die Pädagogin Brigitte Reich fragte sich besorgt, wie Kinder und Jugendliche die Bilder der Kriegsberichterstattung verarbeiten würden. Mit rhetorischen Fragen kritisierte sie die vermeintlichen Inkonsequenzen der Erwachsenen: »Gibt es gute und böse Tote?« Als Pädagogin ging es ihr um Beispiele: »Wir lernen, daß der Krieg im Fernsehen spannend und aufregend ist. Rotglühende Bomben und Raketen sausen durch den nächtlichen Himmel und zerplatzen. Was treffen sie und was richten sie an? Was verbinden unsere medienbenützenden Jugendlichen eigentlich damit, wenn die Fiktion zur Realität wird?« Und »warum werden Kinder und Jugendliche für ihren Protest nicht gelobt, sondern gescholten?«

Als Arzt fragte sich Jürgen Holziger, ob es denn »gute« bzw. »böse« ABC-Waffen gäbe und ob nicht jeder Chirurg, wenn er bemerken würde, daß die Operation notwendig zum Tode des Patienten führen würde, die Verpflichtung hätte, die Operation wieder einzustellen.

Der jüdische Philosophieprofessor Ernst Tugendhat kritisierte die Dualismus- und Patriarchatskritischen Ausführungen von Wasmuth als Allgemeinplätze, mit denen keinem geholfen wäre. Es sei durchaus notwendig zwischen Vernunft und Unvernunft zu unterscheiden und das, was geschähe, sei eben irrational. Man müsse konkret argumentieren: Wenn das Überleben des Staates Israel einem wirklich wichtig sei, dürfe man in Deutschland sein »irrationales Schuldgefühl« gegenüber den Juden nicht von diesen instrumentalisieren lassen. Gerade im Interesse Israels müsse es liegen, daß der Krieg sofort beendet werden würde, denn selbst wenn der Irak kurzfristig besiegt werden würde, würde man durch die damit einhergehende Demütigung der arabischen Welt die Existenz von Israel auf's Spiel setzen.

Während sich die Zuschauer, die den Geizigen von Molière noch anschauen wollten, teilweise wütend oder verständnislos auf den Antikriegsfilm reagierten, den sie sekundenweise, auf ihrem Weg in den Zuschauerraum »ertragen« mußten, fragten sich zwei ältere Frauen, wer denn Dresden bombardiert hätte und wieso denn die Amerikaner nie aus ihren Fehlern lernen würden: »Vietnam ist ihnen nicht gelungen, Stalin ist im Bett gestorben.«Detlef Kuhlbrodt

Freie Volsbühne

Die Qualität oder gar ein praktisches Ergebnis einer Diskussion über den Golfkrieg einzuklagen, erscheint in diesen Tagen fast obszön: So, als säße man vor dem Fernseher und schimpfte über verwackelte, verzerrte und gestreifte Bomberbilder, forderte den sowieso doch fragwürdigen Standard medialer Wahrnehmung ein. Wo ein Großteil der Bevölkerung in allgemeinster Betroffenheit und Lethargie versinkt, wird ein Sich-versammeln, um über die politischen, ökonomischen, psychologischen oder gar persönlichen Beweggründe aller am Krieg Beteiligten nachzudenken, schon zur eigenständigen Leistung. All die scheinbar Durchgeknallten, die derzeit keine öffentliche Meinung haben, nehmen solch eine Gelegenheit zur Meinungsäußerung gerne wahr: Der öffentliche Raum wird zur gruppentherapeutischen Sitzung — nicht schlechter gefüllt als eine durchschnittlich besuchte Vorstellung.

Die Freie Volksbühne war das einzige der am Programm des Antikriegstags beteiligten Theater, das seine Vorstellungen am Mittwoch abend aussetzte und gleich zum »Publikumsdialog« lud. Das Theater dürfe angesichts des Krieges, der Realität »blutiger Planspiele« nicht in gewohnter Normalität verharren. Am 13. Februar sollte das Theater zu einem anderen Ort der öffentlichen Erfahrung werden. Dazu verhelfen sollten die Podiumsgäste: Alexander Kriegsheim und Inge Bartel, die bis vor kurzem noch als »lebende Puffer« im Friedenscamp an der saudi- irakischen Grenze lebten, Ruth Jacobs von der Initiative »Jüdische Frauen gegen den Krieg«, der irakische oppositionelle Schriftsteller Najem Wali und der FU-Wissenschaftler Friedemann Büttner.

Najem Wali begann mit einer Lesung aus seinem Roman Krieg im Vergnügungsviertel, der weniger eine Frontberichterstattung aus dem iranisch-irakischen Krieg sein will als eine Innenansicht der darin verwickelten Bevölkerung, also auch der Soldaten. Wali geht der Frage nach, warum Soldaten Kriege machen, an die sie nicht glauben: »Ihr Herz hatte ihnen den Krieg erklärt. Wenn sie gekonnt hätten, hätten sie mit beiden Händen an ihre Seele gefaßt.« Das »Vergnügungsviertel«, eine Art Las Vegas im Dreiländereck Iran, Irak und Saudi-Arabien, wo die Scheichs ihre Petrodollars lassen, ist zugleich eine wilde multikulturelle Mischung der Ärmsten und Verachtetsten: Zigeuner, Zuhälter, Prostituierte. Walis Text ist eine Milieustudie, die von einer Bevölkerung handelt, die in den Köpfen der westlichen Militärs nur als Poller vorkommt. Vielleicht sind diese Köpfe mit denen identisch, die ein an der Front herumirrender Verrückter in Walis Roman als besonders interessante Verletzungsfälle bezeichnet: Köpfe »gewaltiger Denker«, groß wie Eselsköpfe, deren Aufnahmekapazität erschöpft ist, so daß es keinen Sinn mache, mit ihnen zu sprechen.

Das Thema Vernunft und Moral sollte auch den restlichen Abend bestimmen. Eine der wenigen Kontroversen entspann sich zwischen den beiden Friedenscampern und dem FU-Professor Friedemann Büttner. Hatten sie, so sein nicht unbedingt origineller Vorwurf, mit ihren Menschenketten und Friedensaktionen im Irak vielleicht ein »Wahrnehmungsproblem« der auf den Krieg zusteuernden Parteien verstärkt, indem sie den Ernst der Bedrohung des Friedens eher verschleiert als herausgestellt hätten? Ist Ernstfall geworden, was Saddam Hussein bis zuletzt vielleicht als Bluff verstanden hat, zumal er durch die diplomatischen Erklärungen der USA, man habe zum Fall Kuwait »keine Meinung« geradezu zur Invasion eingeladen worden war? Doch statt diese Theorie zu diskutieren, mußte sich Büttner erstmal für sein Theoretisieren entschuldigen: Er sei ja auch ein »moralisches Wesen« und verurteile diesen Krieg. Deswegen dürfe er aber doch auch analysieren, oder? Also mußte man erstmal klären, wie Reflexion funktioniert. Und wie Betroffenheit. Und wie alles beide zusammen.

Inge Bartels, Friedenscamperin und Guter-Mensch-an-sich, sagte darauf, diese Logik sei ihr gar nicht gekommen. Sie sie damals »aus der Intuition« heraus schon im August nach Bagdad gefahren. Die Organisation einer Menschenkette in Bagdad, kurz vor Beginn des befohlenden Kriegs, sei in vollkommener Kooperation mit den irakischen Behörden vonstatten gegangen. Man habe sechs unabhängige Lautsprechersysteme und fünf Übersetzer gehabt. Das Singen von Friedensliedern mit den Irakern sei ein unwahrscheinlich »schönes Erlebnis« gewesen. Bis zur letzten Minute hätten die Iraker nicht geglaubt, daß es Krieg gibt. Hier sei ein Ansatz zur Gewaltlosigkeit vom amerikanischen Angriff zerschmettert worden.

Wen aber wollte man zum Frieden erziehen? Eine Bevölkerung, die sich nur im Untergrund oppositionell betätigen kann? Najem Wali erläuterte die Vielfältigkeit einer wie überall natürlich zerstrittenen Opposition, die religiös oder marxistisch begründet sei. Saddam Hussein, der es verstanden hätte, in den Siebzigern die Arbeiterbewegung auf seine Seite zu ziehen, indem er sich als »Linker« gerierte, hätte jetzt angefangen zu beten, um ausgerechnet die, deren schiitische Führer er hingerichtet hat, hinter sich zu kriegen. An ihm werde die ganze Absurdität der westlichen Kriegslogik deutlich: Jahrelang sei er als moderner Mensch gegen das iranische Mittelalter aufgebaut worden, jetzt werde er, erst der »Irre«, dann der »Hitler« von Bagdad zum bösen Westernhelden: »Saddam, gib's auf«, titelte unlängst Bild. Jetzt erzählt man ihm, Wali, was Saddam für ein Verbrecher ist. Aber keiner habe ihm zuhören wollen, als er während des iranisch-irakischen Kriegs über seine Erfahrungen in irakischen Gefängnissen reden wollte.

Über die Frage, ob der Krieg ein Spiel der großen Männer ist oder gar »ein Streit, wie er zwischen Kindern entsteht, und den man auch entsprechend schlichten muß, ohne Rechthaberei« (Bartels), konnte man sich an diesem Abend nicht mehr einigen. Auch nicht, ob es nicht ganz »wichtig« wäre, die Chefetagen zu überzeugen, daß »wir nur gemeinsam gewinnen können« (Bartels), wie man außerdem die Massen aktivieren könnte, wo wiedermal die Arbeiterschaft wäre (z.B. an diesem Abend) usw. Soviel kann man von einer Informationsveranstaltung, wie sie die Freie Volksbühne in erster Linie bieten wollte, auch nicht verlangen. Aber doch von der versammelten Kriegsgegnerschaft den Willen zum Denken, um wirklich handlungsfähig zu werden, statt das Ablassen allgemeinster Leerformeln, wie sie die Friedenscamper beschwörten: »gewaltlose« Aktionen und »Mitgefühl für die Unterdrückten«. Dorothee Hackenberg