Wo bleibt da eigentlich unsere Würde?

■ Brief an Bundesverteidigungsminister des Auswärtigen Amtes Hans-Dietrich Genscher

Brief an den Bundesverteidigungsminister des Auswärtigen Amtes Hans-Dietrich Genscher, Adenauerallee 99-103, 5300 Bonn 1

[...] Für mich ist Krieg kein akzeptables politisches Mittel, sondern zeigt das Versagen der verantwortlichen Politiker, zeigt ihre Unfähigkeit, Verantwortung für andere Menschen (die sie vertreten sollen) zu tragen.

Für mich ist ohne Zweifel, daß Saddam Hussein ein Diktator ist, der nicht nur gegen andere Länder (Iran, Kuwait) brutal vorgegangen ist, sondern auch gegen die Landsleute in seinem eigenen Land (Oppositionelle, Kurden).

[...] Nie wurden in der Rechtfertigungsargumentation für den Golfkrieg von alliierter Seite oder hier in der BRD menschliche Gründe aufgeführt. Es wird von der Befreiung Kuwaits gesprochen, aber nicht von der Befreiung der kuwaitischen Bevölkerung. Auch Kuwait wird ständig bombardiert. Sollen die Kuwaiter vor ihrer Befreiung durch die Alliierten umgebracht werden?

Niemand kann mir weismachen, daß nicht ein großer Teil der irakischen Bevölkerung unter Saddam Hussein leidet. Doch welcher Politiker hat jemals als Grund für den Krieg angeführt, daß das irakische Volk von seiner unmenschlichen Diktatur befreit werden soll? Statt dessen wird die irakische Bevölkerung unablässig bombardiert, und es gibt bereits lange Meldungen von 100.000den von Todesopfern [...]. [...]

Es scheint den westlichen Staaten weder um Völkerrecht noch Menschenleben zu gehen, sondern der Eindruck entsteht, es gehe hier um Erdöl, und daß keine Verhandlungsbereitschaft seitens der USA, Israel und westlichen Verbündeten besteht. [...]

Für mich müssen dieselben Gesetze, die unter Menschen im zivilen Leben gelten, auch und gerade auf politischer Ebene ihre Gültigkeit behalten. Das heißt für mich, daß Konflikte nicht mit Bomben und Maschinengewehren gelöst werden dürfen, sondern mit anderen friedlichen Mitteln.

Ich habe folgende Fragen an Sie: Warum wurde das Wirtschaftsembargo gegen Irak nicht langfristig aufrechterhalten? Es wurden viele Stimmen laut, die sagten, daß ein Wirtschaftsembargo nur langfristig wirken kann, und diese Möglichkeit wurde nicht genug ausgeschöpft.

Warum wird überhaupt soviel Geld in die Rüstung und Militär gesteckt, während auf anderer Seite Gelder im Sozialbereich gestrichen werden? Wie kommt es, daß es in unserem Land überhaupt möglich ist, Giftgase herzustellen? Welche Menschenverachtung steckt her eigentlich dahinter? Israel wäre heute nicht von Giftgas bedroht, wenn westdeutsche Firmen nicht Giftgas herstellen und damit handeln würden! Schon 1988 wurde die Bundesregierung — in bezug auf die Ermordung von Kurden im Irak durch Giftgas — von der Liga für Menschenrechte darauf aufmerksam gemacht! Was wurde denn seither von der Deutschen Bundesregierung dagegen unternommen?

Warum wird nicht ausschließlich Wissen und Geld zum Bau von Schulen, Krankenhäusern und anderen Hilfen im sozialen Bereich an die Länder der Dritten Welt geliefert und jeder militärische Handel gestoppt?

Wissen Sie, wieviel Schmerzen eine Geburt für eine Frau bedeutet? Und wieviel Mühe es die Eltern kostet, nur ein einziges Kind großzuziehen? Wie verantworten Sie es, daß diese Kinder dann mit 18 Jahren für wehrpflichtig erklärt werden und auf das Töten und Getötetwerden vorbereitet werden? Können Sie sich die Schmerzen einer Mutter vorstellen, die ihr Kind verliert?

Ich schreibe als ehemalige Erzieherin, die Kinder immer dazu angeregt hat, im Streitfall nicht gleich zuzuschlagen, sondern andere friedliche Lösungen zu finden, und die —gemeinsam mit KollegInnen — Waffen als Kinderspielzeug nicht zugelassen hat; als Mutter eines Kindes; als Bürgerin unseres Landes, die sich ein Deutschland (und eine Welt) ohne Armee wünscht, ein friedliches Deutschland, das unter „Solidarität“ mit anderen Ländern versteht, mehr Menschlichkeit und friedliche Konfliktlösung in die Welt zu tragen. Ich wünsche mir ein mutiges Deutschland, das es wagt, auch mal gegen den Strom zu schwimmen, und das trotz der Dankbarkeit — aus den Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges (und gerade deshalb) — den Alliierten gegenüber sich nicht duckmäuserisch den amerikanischen Weltordnungsplänen unterordnet. Wo bleibt da eigentlich unsere Würde? [...] Margot Winkler, West-Berlin