Aber es schneit. Eine Erzählung

 ■ Von Karlheinz Koinegg

Heute ist der zwanzigste Tag, in den 9-Uhr- Nachrichten kam die Meldung von 1.000 toten Zivilisten, und ich darf mir gar nicht ausdenken, wie tausend tote Zivilisten aussehen, denn in meiner Vorstellung tragen sie noch grössere Schulterklappen und Orden als ein General, und tausend tote Zivilisten können in meiner Phantasie gar nicht anders liegen als in einer ordentlichen Reihe, wie kostbare Marionetten mit abgeschnittenen Fäden, aber würdevoll, und als sei es die höchste Bestimmung eines Zivilisten, tot zu sein. Absurderweise tragen sie alle geknöpfte Röcke aus rotem Samt, und ich kann mir die Zivilisten nur denken mit goldenen Zivilistenkrönchen, und ich möchte vor lauter Ärger das Radio sofort abstellen und den Zivilisten, die noch übrig und am Leben sind, ein Dekret in die Wüste schicken, das ihnen verbietet, ab sofort und für die Dauer des Kriegs, ihre Zivilistenschächtelchen zu verlassen, drin liegen zu bleiben und eine Extralage schwarzes Seidenpapier um jeden Zivilistenkörper zu schlagen, bis der Krieg vorbei ist. Mich empört die Fahrlässigkeit der Zivilisten, sich in einen Krieg einzumischen, mit dem sie rein gar nichts zu tun haben: als ob der Krieg ein Vergnügen sei und sie so einfach darin spazierengehen könnten als Zivilisten und alles durcheinanderbringen — nicht mit mir, sage ich, aber ich habe ja nichts zu sagen.

Nikolaus Dumm findet mich mal wieder hysterisch. Ihn interessieren die 1.000 toten Zivilisten keineswegs und auch der Krieg nicht, er sagt:

„Die Hand eines Malers erwacht nachts und entzündet ihr Licht wie ein Glühwürmchen, das dem trägen Auge zu schnell und den Gedanken der Wissenschaftler immer noch geheimnisvoll ist.“

Er steht in seinem Atelier und sieht aus dem Fenster. Wie immer ist mir seine Ruhe unheimlich, aber sie hat ja auch ihr Richtiges, und ich lasse mich von seiner Stimme gern beruhigen, die wie aus einer anderen Welt kommt, aus einer langsameren Epoche, vielleicht sogar aus der Zukunft, aber bestimmt aus einer Zeit, in der es keine 9-Uhr-Nachrichten und keine Zivilisten mehr geben wird und nichts, was mich ärgert, denn immer wird seine Stimme wie ein wunderbarer Glockenton vor jedem Ärger und vor jedem Gedanken sein.

„Hör mal zu“, sagt er, „deine Zivilisten sind doch nichts als eine fixe Idee. Wer hat dir das eingeredet? Das Radio? Zivilisten — das ist wieder so was Schöngeistiges, so eine Erfindung der Vereinigung der universalen Sozialarbeiter, und die Kuratoriumsvorsitzenden heißen Schwarzkopf und Powell.“

Seiner Ansicht nach existieren Zivilisten überhaupt nicht, aber mich begeisert ja schon, daß er überhaupt etwas zu den Zivilisten sagt, und für seine Verhältnisse ist es geradezu sensationell politisch. Wenn es nach Nikolaus Dumm ginge, wäre die Politik schon längst abgeschafft, die Nachrichten gäbe es vielleicht noch, mir zuliebe, aber es fällt mir schwer auszudenken, was dann rein soll in die Nachrichten.

„Das wären dann doch keine Nachrichten mehr“, sage ich, „da würde ich sofort mein Radio abmelden.“

Aber Nikolaus versteht nicht, was das jetzt schon wieder heißen soll. Er seufzt. Ich verschweige ihm lieber, daß ich die Kultur genauso langweilig finde wie er die Politik, und ich kann mir einfach nicht vorstellen, nur noch mit Berichten über Vernissagen und Theaterskandale geweckt zu werden, es ist zu fürchterlich, ich denke lieber nicht weiter darüber nach, sonst verwandele ich mich vor seinen Augen noch in den Oberbefehlshaber der Streitkräfte und befehle das sofortige Bombardement, ich habe eine Neigung zu solchen Szenarien, zwecklos, es zu leugnen.

Ich versuche mich in seiner Sprache und sage: „Der Krieg ist ein lichtloses Wesen“, aber irgendwie fällt mir nicht mehr dazu ein, und ich glaube, das war die Anfangszeile aus einem Gedicht, das Nikolaus selbst in der Oberprima geschrieben hat und das ihm damals eine Belobigung einbrachte. Jetzt ist er ja Maler, und es gibt Tage, da ekeln ihn die Worte. Es gibt Tage, da liegt er stundenlang mit einem feuchten Tuch über den Augen im verdunkelten Atelier, und wenn ich frage, was ihm fehlt, sagt er: Zeitungen, aber um Gottes Willen soll ich nicht loslaufen, ihm welche zu besorgen, er kennt mich ja, ich würde das glatt fertigbringen, und er versteht ohnehin nicht meine Gier nach den Zeitungen, er begreift einfach nicht, daß ich die Informationen benötige, daß ich sie brauche, weil ich wissen muß, was in der Welt vor sich geht, und ich kaufe mir schon zwei verschiedene als Gift und Gegengift, sonst wäre ich ja verloren, das weiß ich doch auch, daß jede Zeitung ihre Richtung hat, aber Nikolaus will von den Zeitungen jetzt überhaupt nichts wissen, ihm wird schon übel, wenn er nur daran denkt, an den Informationsmüll, an den Meinungssalat, an das ganze Geschwätz, welches das Elend doch erst hervorbringt usw. usf.

Ich habe mir schon überlegt, ob Nikolaus vielleicht ganz im geheimen einem Orden angehört, irgendeiner religiösen Vereinigung, die sich das Verbot von Politik und Zeitungen, 9-Uhr-Nachrichten und Zivilisten auf ihre Fahnen geschrieben hat, oder besser noch: ihre Transzendenz; ich stelle mir das dann so vor, daß auf Geheiß des Meisters am Tage X plötzlich alles verdampft und auf die staunenden Leute runterregnet, in Silber und Gold und wie Konfetti in tausend Blütenstaubfarben, und alle sind ganz bestäubt davon und verwundert und sagen: Hätten wir doch bloß früher gewußt, daß man so was wirklich Schönes aus den 9-Uhr- Nachrichten machen kann, erstaunlich, diese religiöse Vereinigung! Und auch mir ist diese Vorstellung sehr sympathisch, ich begrüße sie innerlich sozusagen aus ganzem Herzen, aber ich weiß ja noch nicht mal, ob Nikolaus Dumm tatsächlich Mitglied eines solchen Geheimbunds ist, wahrscheinlich ist er ganz einfach ein Künstler.

Wenn er zwischendurch mal an die frische Luft muß, bleibe ich meistens im Atelier und sehe mir die Bilder an oder lese heimlich in seinen persönlichen Notizen. Für mich sind diese Heimlichkeiten genausogut wie ein Spaziergang, und wenn Nikolaus nach einer halben Stunde wiederkommt, sind unser beider Wangen gerötet, der Blick fester und auf ein ferneres Ziel gerichtet oder — je nachdem — auch auf ein näheres, jedenfalls hat sich unser seelischer Brennpunkt verschoben, das behauptet Nikolaus wenigstens, und das sei der einzige Grund, weshalb man überhaupt spazierengehen sollte, mit körperlicher Ertüchtigung habe das nun schon gar nichts zu tun. Heute läßt er sich Zeit mit dem Gehen, ich sitze da, er rührt in irgendwelchen Farben, wir hören Radio, und selbst auf dieser NonstopMusic-Welle, die er immer eingeschaltet hat, sind die Sondermeldungen nicht zu vermeiden, dafür gibt es einen neuen Jingle mit ratternden Fernschreibern, ich denke sofort: Damit kann man den Krieg nicht gewinnen, aber es ist ja eine Reminiszenz an die mittelalterliche Bilderwelt der Leute, einen Satellitenstrahl oder ein digitalisiertes Telefax kann sich schließlich kein Mensch vorstellen, und irgend etwas muß man sich ja vorstellen können in diesem Krieg, also rattert der Fernschreiber um so aufgeregter, und die Nachrichtensprecherin verliest die sehr langweilige Wiederholung des 9-Uhr-Kommuniqués mit den tausend toten Zivilisten. Ich sage schon gar nichts mehr, aber Nikolaus nimmt von selbst seinen Mantel und geht jetzt für eine halbe Stunde vor die Tür.

Ich betrachte sein neuestes Bild. Es ist blau, aber noch nicht fertig. Was ihm fehlt, weiß ich nicht. Nikolaus sagt, ihm fehle der menschliche Glanz. Er will, daß man vor diesem blauen Bild erschrickt wie vor einem Menschen, dem man unvermutet gegenübersteht, und daß es gar nicht möglich ist, das Bild zu betrachten oder in Katalogen abzudrucken, weil es eine Sünde sei, den Menschen, der zu einem unterwegs ist, bloß zu betrachten, es wäre ganz unmöglich, und so ein Bild will er malen. Ihm wird es noch gelingen, die Galeriebesucher und Kunstliebhaber genauso überflüssig zu machen wie die Zeitungen, und das ist sogar sein erklärter Wille, aber dazu müßten natürlich die Menschen auch Menschen mit menschlichem Glanz sein.

Auf dem kleinen Pult beim Fenster liegt sein Arbeitsbuch, mit Entwürfen, eingeklebten Fotos, Skizzen und Notizen, die er ganz für sich behält und die ich nicht lesen darf, weil sie unter das Bankgeheimnis fallen, denn für Nikolaus ist dieses Buch seine „Substanzbank“, und Nacht für Nacht hebt er dort ungeahnte Beträge ab. Ich bin aber jederzeit bereit, das Bankgeheimnis zu verletzen, nicht aus Leichtfertigkeit oder zielloser Neugier, sondern aus einer schlichten Not heraus, weil ich nie in der Lage war, ein solches Konto zu eröffnen, und ich betrachte meine Handlung seit jeher als eine Art von geistigem Mundraub, für die mich jedes Gericht auf der Stelle freisprechen würde.

Ich stehe am Fenster und blättere in dem Buch, während es jetzt draußen zu schneien beginnt. Es ist ja schon seit Tagen so kalt, und ich sehe hinaus in die Luft und frage mich, wo Nikolaus bei diesem Wetter wohl langgehen wird, und ich sehe altbekannte Dinge in dem Buch, es schneit, die Autos hören auf zu fahren, und ich komme zu dem Schluß, wo steht:

„Der Krieg ist ein kleines Mädchen, das in seinen Träumen jede