ÖTV: Gesamtdeutsch in die Kraftprobe

■ Vereinigungs-Gewerkschaftstag der ÖTV/ Schwierige Interessenbalance zwischen den insgesamt mehr als zwei Millionen alten und neuen Mitgliedern

Stuttgart/Berlin (taz) — Zum Auftakt gab es eine Überraschung für die tausend Ost-West-Delegierten, die zum gestrigen Vereinigungs-Gewerkschaftstags der ÖTV nach Stuttgart gekommen waren: Wolf Biermann sang zur Eröffnung. Deutsch- Deutsches beherrscht das Programm des Arbeitskongresses der größten Dienstleistungsgewerkschaft in Europa, auf dem nicht nur ihre organisatorische Einheit in Gesamtdeutschland vollzogen, sondern wirtschafts-, sozial- und tarifpolitische Akzente im Einigungsprozeß gesetzt werden sollen.

Wichtigstes Ziel der gesamtdeutschen ÖTV sei die schnelle Angleichung der Arbeits- und Lebensbedingungen, betonte die Vorsitzende Monika Wulf-Mathies in ihrem Grundsatzreferat. Der Unmut der Delegierten aus den neuen Bundesländern über die immer weiter auseinanderklaffende Schere zwischen Ost und West hatte sich bereits in einem dicken Antragspaket niedergeschlagen: kein ökonomischer und sozialer Kahlschlag, rasche Maßnahmen gegen die Massenarbeitslosigkeit und eine zügige Angleichung der Tariflöhne werden darin gefordert. Und die Delegierten verlangen die Revision jener Einigungsvertragspassage durch das Bundesverfassungsgericht, mit der zahlreiche öffentlichen Bediensteten der Ex-DDR in den Wartestand versetzt wurden.

Der Wechsel in ein neues Wirtschafts- und Gesellschaftssystem, so konstatierte die ÖTV-Chefin, habe zunächst mehr Kälte, Unsicherheit und Desorientierung gebracht. Nun sei die Zeit „reif für einen Pakt der sozialen Verantwortung“. Dafür sollten sich Regierung, Länder, Kommunen, Unternehmen und Gewerkschaften an einen Tisch setzen. Einen Solidarbeitrag der Arbeitnehmer im Westen schloß Wulf-Mathies nicht aus; jedoch müsse gewährleistet sein, daß dieser den Beschäftigten im Osten zugute komme und nicht zu Steuergeschenken für Unternehmen mißbraucht werde. Von einer Lohnzurückhaltung wollte die ÖTV- Chefin jedoch nach wie vor wenig wissen: angesichts der „sozialen Schlagseite der Koalitionsvereinbarung“ und der Tatsache, daß zwei Drittel der Einheits-Kosten durch die Arbeitnehmer aufgebracht werden sollen, sei eine derartige Forderung eine „Provokation“.

Schwierige Gewerkschaftseinheit

Der Weg der ÖTV zur gesamtdeutschen Organisation war komplizierter als bei den meisten anderen Gewerkschaften. Denn die ÖTV hat es u.a. auch mit den politisch belasteten Bereichen des SED-Herrschaftssystems zu tun. Sie hat deshalb nach einigen Monaten der Unsicherheit eine Doppelstrategie gewählt: einerseits schloß sie Kooperationsabkommen mit den diversen Einzelgewerkschaften in der ehemaligen DDR ab, die ihren Mitgliedern nach ihrer Auflösung den Beitritt in die ÖTV nahelegten. Andererseits wurde schon im Mai eine DDR-ÖTV nach westdeutschem Vorbild als Auffangbecken für jene gegründet, die sofort ihren bisherigen FDGB-Gewerkschaften den Rücken kehren wollten. Funktionär in dieser Gewerkschaft konnte nur werden, wer schriftlich erklärte, nichts mit der Stasi zu tun gehabt zu haben. Nach einigen Monaten der Unsicherheit entschied sich die ÖTV so für den vollständigen Neuaufbau in den neuen Bundesländern.

Während sie dies ohne größere politische Widerstände gegen die alten DDR-Gewerkschaften durchsetzen konnte, bekam sie heftigen Streit mit zwei anderen DGB-Gewerkschaften. Sowohl die IG-Bergbau und Energie als auch die HBV beanspruchten bei der Ausdehnung auf Ostdeutschland Organisationsbereiche für sich, die im Westen zur ÖTV gehören.

Die von nun an gesamtdeutsche ÖTV wird nicht viel Zeit haben, sich in den neuen Ländern zu konsolidieren. Schon in diesem Frühjahr stehen in Ost und West konfliktträchtige Tarifverhandlungen an. Denn wie keine andere Gewerkschaft muß die ÖTV angesichts der katastrophalen Finanzlage der öffentlichen Haushalte in den neuen Bundesländern einen Balanceakt zwischen den Interessen ihrer Mitglieder in Ost und West vollbringen. Schon in der nächsten Woche wird es in der zweiten Verhandlungsrunde um die Forderung der ÖTV nach 10 Prozent Gehaltserhöhung für den öffentlichen Dienst im Westen gehen. Eine Forderung übrigens, die ÖTV-Chefin Wulf-Mathies in ihrem gestrigen Grundsatzreferat mit keinem Wort erwähnte. Maßstab dieser Tarifforderung, so begründet die ÖTV die 10 Prozent, könne nicht der Gehaltsrückstand der ostdeutschen Staatsbeschäftigten oder gar der Kollaps der öffentlichen Finanzen im Osten sein, sondern die Konkurrenzfähigkeit zu den Einkommen in der Privatwirtschaft des Westens. Für den Osten dagegen fordert die ÖTV eine Anhebung auf zwei Drittel des Westniveaus und zusätzlich eine Vereinbarung über Qualifizierungsmaßnahmen. Wo das Geld dafür herkommen soll, sagt die ÖTV nicht. „Sonderopfer“ für die Einheit, so die ÖTV-Vorsitzende, kommen nicht in Frage. E.Single/M.Kempe