Tisch beschäftigt Karlsruhe

■ Verfassungsgericht soll klären, ob „Vertrauensmißbrauch zum Nachteil des sozialistischen Eigentums“ in der kapitalistischen BRD strafbar ist

Berlin. Im Prozeß gegen den ehemaligen DDR-Gewerkschaftsvorsitzenden Harry Tisch hat das Berliner Landgericht das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe angerufen. Die Entscheidung betrifft den gegen den 63jährigen erhobenen Vorwurf, er habe Mittel des Gewerkschaftsbundes unrechtmäßig zum Ausbau des DDR-Jagdgebiets Eixen verwandt. Das Landgericht trennte diesen Anklageteil von der Hauptverhandlung ab, entschied aber gleichzeitig, die Hauptverhandlung wegen der beiden übrigen Vorwürfe fortzusetzen. Darin wird Tisch zur Last gelegt, mit Gewerkschaftsgeldern Urlaube für seine Familie und die des ehemaligen DDR-Wirtschaftslenkers Günter Mittag aus der Gewerkschaftskasse finanziert sowie eigenmächtig hundert Millionen Mark des FDGB an die DDR-Jugendorganisation FDJ überwiesen zu haben. Auch der Haftbefehl gegen Tisch bleibt bestehen.

Die 19. Große Strafkammer begründete die Anrufung der Verfassungsrichter am siebten Verhandlungstag damit, daß die durch den deutsch-deutschen Vereinigungsvertrag bestimmte Fortgeltung der DDR-Strafvorschrift „Vertrauensmißbrauch zum Nachteil des sozialistischen Eigentums“ mit dem Grundgesetz nicht vereinbar sei. Diese Bestimmung war von der Staatsanwaltschaft im Fall Tisch im Hinblick auf den Komplex Eixen herangezogen worden.

Der Einigungsvertrag hatte vorgesehen, alle wegen Vertrauensmißbrauchs eingeleiteten Ermittlungsverfahren weiterzuführen, obwohl die DDR-Volkskammer im Sommer 1990 die Bestimmung gestrichen hatte. Damit wollten die Verantwortlichen der Bundesregierung und der letzten DDR-Regierung offenbar zahlreiche Verfahren gegen Mitglieder der ehemaligen SED-Führungsmannschaft retten. Nach Ansicht des Gerichts verstößt dies aber gegen das Gleichheitsgebots des Grundgesetzes und das ebenfalls in der Verfassung niedergelegte Verbot der „Einzelfallgesetzgebung“.

Keinen Erfolg hatte die Verteidigung mit ihrem Antrag, das Verfahren insgesamt aufgrund gravierender Verfahrenshindernisse einzustellen. Selbst wenn Staatssicherheitsmitarbeiter im November 1989 federführend an Tischs Vernehmungen beteiligt gewesen sein sollten, hieß es im Gerichtsbeschluß, sei das nicht zu beanstanden. Ein derartiges Vorgehen entspreche der damaligen Gesetzeslage in der DDR. Auch durch Repressalien zustande gekommene Aussagen seien nicht als Verfahrenshindernis anzusehen.

Der Prozeß wurde gestern mit der Beweisaufnahme fortgesetzt.

dpa