„Sagt einmal, wißt ihr, was Pogrome sind?“

■ Bremen — Frankfurt — Tel Aviv: Eine Bestandsaufnahme der jüdischen Kinderliteratur / Vieles vernichtet, vieles verstreut

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den Scherenschnitt

Der Todt des Weisen, ist oft lehrreicher als sein Leben. — Ist deine Tochter mannbar; so gieb deinem Sclaven die Freiheit, und verheurath sie mit ihm. — Eheliche Liebe, findet auf einer Messerschneide Raum; Ehelichem Haße ist ein sechzigfuß breites Bett zu eng. Solche „Sittensprüche und Sprichwörter“ aus dem Talmud

bekamen jüdische Kinder 1779 zu lesen. Damals erschien in Berlin von David Friedländer ein „Lesebuch für Jüdische Kinder“, in dem auch Gebete, Fabeln und „Beyspiele von Tugenden und Lastern, guten und schlechten Gesinnungen“ standen.

Entdeckt und neu herausgegeben hat dieses Buch Zohar Shavit, Literaturwissenschaftlerin an der Uni Tel Aviv. Sie und der Bremer Hochschullehrer Dieter Richter, Fachmann u.a. für Kinderliteratur, verabredeten 1988 ein Projekt: Bibliografie und Sammlung deutschsprachiger jüdischer Kinderbücher vom Mittelalter bis 1945. Ein Förderungsantrag an die deutsch-israelische Wissenschaftsstiftung GIF wurde im Sommer 1990 positiv beschieden, d.h. es gibt 270.000 DM für das zunächst dreijährige Projekt. Nach internen Querelen wurde nicht Bremen, sondern Frankfurt zum Zentrum der Sammlung, nämlich das Institut für Jugendbuchforschung (Leiter Hans- Heino Ewers).

In Bremen ist es Michael Nagel, promovierter Bremer-Kinderbuch-Forscher, der die Hauptlast der bibliografischen Kleinarbeit trägt. Denn jüdische Kinderbücher sind noch nie systematisch gesammelt oder katalogisiert worden. Der Bestand ist im Dritten Reich weitgehend vernichtet worden. Es gibt bisher zwei Spezialsammlungen, davon eine überaus dubios: die Rosenbergsche Bibliothek zur „Dokumentation einer ausgestorbenen Rasse“, deren Verbleib unklar ist. In Tel Aviv liegt eine Schulbuchsammlung vor, die 1.000 Titel umfaßt.

Die Hauptabeit liegt — neben der Auswertung einschlägiger Bibliografien — im Durchstöbern auswärtiger Bibliotheken wie Amsterdam, Kopenhagen, Wien, Prag und Warschau.

Michael Nagel hat ein Jahr lang Hebräisch bei der Israelitischen Gemeinde gelernt. Grund: Im Zuge der jüdischen Aufklärungsbewegung (ca. 1800 bis 1850) entstand auch hebräische Kinderliteratur. Bis weit ins 19. Jahrhundert waren jüdische Kinderbücher allerdings überwiegend religiösen Inhalts und / oder mit pädagogischer Zielsetzung. Ein neues Motiv auch in der Kinderliteratur kam mit der zionistischen Bewegung des Theodor Herzl auf, die wiederum auf den schlimmer werdenden Antisemitismus seit 1870 reagierte. „Palästina“ als Thema gelangte auch in Kinderbücher und Kinderkalender. Ihr sitzt in eurer warmen Stube, habt ein Dach überm Kopf ... ein weißes Bett für die Nacht — sagt einmal, wißt ihr, was Pogrome, wißt ihr, was Pogromwaisen sind? ... Mitten im Lande Israel liegt ein merkwürdiges Dorf, Ben Schemen genannt. Kommt man übers Feld und nähert sich ihm, so begegnet man fünfzehnjährigen Jungen, die hinter dem Pfluge gehen ... Es folgt ein Bericht vom „Land der Väter“. Zitiert aus einem „Jüdischen Kinderkalender 1928/29“ von Bernhard Cohn.

Im selben Kalender findet sich auch ein ziemlich versteckter Hinweis auf ein weiteres Motiv jüdischer Kinderbücher der Dreißiger Jahre: „Onkel Josua“ hat zum jüdischen Freudenfest Purim ein Schattenspiel geschrieben, „Daniel in der Löwengrube“. Darin taucht ein Menetekel an der Wand auf, das der Jude Daniel dem König so erklärt: Die Zeichen, Herr, das kenn ich schon, / Heißt Menetekel, ist nichts Gescheuts, / In Deutschland nennt man's das Hakenkreuz. / Vor diesem Zeichen sei dir bang. / Denn das bedeutet Untergang.

Auf mehrere Tausend Titel schätzen die Wissenschaftler den zu erfassenden Bestand, die größte Arbeit beginnt ab Sommer mit Reisen: Standortbestimmun

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"Benni fliegt...“

gen und Kopieren für die Spezialbibliothek in Frankfurt. Danach ist ein „Handbuch“ mit ausgewählten Beispielen geplant. Die Kommunikation zwischen Bremen, Frankfurt und Tel Aviv soll bald über Datenleitungen (“bit- net“) möglich sein, bisher vertragen sich die Systeme noch nicht.

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"Die vier..."

Der Bremer Beitrag ist übrigens noch nicht restlos gesichert, da Michel Nagels Stelle und die auftretenden Reisekosten finanziert werden müssen. Die GIF zahlt nicht, ABM- und Förderanträge an die „Freunde der Uni Bremen“ sind gestellt. Burkhard Straßmann