Es war einmal das Kino

■ Der sizilianische Schriftsteller Leonardo Sciascia erinnert sich an seine frühesten Kinoerlebnisse

Ein Mensch, der heute an der schicksalhaften Schwelle des siebzigsten Lebensjahres steht und der die ersten zehn — die unauslöschlichen Jahre der Kindheit — in einem kleinen Dorf im Inneren Siziliens verbracht hat, einer Insel auf der Insel, ohne dieses Dorf in diesen frühen Jahren jemals zu verlassen, hat Erinnerungen zu verzeichnen, die sich in Zahl, Art und Bedeutung vollkommen von denen jedes Gleichaltrigen unterscheiden, der diese frühen Jahre in einer mehr oder weniger großen Stadt, in einem Dorf am Meer oder an einer vielbefahrenen Bahnstrecke oder Straße verbracht hat.

Und nur, um ein Beispiel zu nennen, das, glaube ich, zu den außergewöhnlichsten in der Erinnerung eines jeden meiner Zeitgenossen gehört: Wer erinnert sich noch an den Schnee, den die Karren von den Schneefeldern der Berge herunterbrachten, bedeckt mit Salz und Stroh, den man in den Straßen schreiend zum Verkauf anbot und den zu kaufen man aus den Häusern herbeieilte, um die Speisen im Sommer zu kühlen? Schnee für zwei Soldi, vier Soldi. Und man gab ihn in eine eigene Vertiefung bestimmter Flaschen (ich habe keine mehr gesehen), um das Wasser zu kühlen, um den starken sizilianischen Rotweinen eine Illusion von Leichtigkeit zu verleihen. Schnee für eine halbe Lira reichte auch, um die Mischung aus Wasser, Zucker, Zitrone und Eischnee zu gefrieren, die Granita genannt wird. Die Granita von damals, die man glücklicherweise noch in einigen abgelegenen Dörfern finden kann.

Dann, ungefähr zu der Zeit, als die italienischen Luftschiffe über die Eisflächen des Nordpols flogen, kam die Eisfabrik. Das war ein Staunen, als wir die gläsernen, durchsichtigen Blöcke herauskommen sahen, die bei uns Kindern, deren Phantasie noch ganz von der Expedition zum Pol gefangen war, eine merkwürdige Verbindung zwischen dem Eis und dem roten Zelt des Generals Nobile auslösten. Sie ist mir erhalten geblieben, eine Art bedingter Reflex. Und um den dramatischen Mythos vom Pol, der Expedition Nobile, von diesem Universum aus Eis zu nähren, wurde über den Pol und das Leben der Seehunde auf einem großen Leintuch, das auf dem Platz an irgendwelchen Stützen aufgehängt worden war, der erste Film gezeigt, den das Dorf je gesehen hatte: ein kurzer Dokumentarfilm, der vielleicht gedreht worden war und herumgefahren wurde, um auf die Vorfälle zu reagieren (der Faschismus hatte oft so stürmische Züge).

Der Projektionsapparat funktionierte mit Acetylen, da mit dem Bau des Elektrizitätswerks des Dorfes erst vor kurzem begonnen worden war. Die Straßenbeleuchtung — spärliche, gelblich schwankende Lichtflecken — bestand noch aus Petroleumlampen. Um sie kümmerte sich ein Alter, der in unserer Nähe wohnte. Er ging zur Stunde des Avemaria mit der Leiter auf der Schulter und der Petroleumkanne in der Hand weg, kam vor dem Dunkelwerden wieder zurück, ging in der Morgendämmerung wieder mit einer langen Löschstange weg, durch die er, eingefallen, wie er war, wie ein Ecce- Homo aussah. Der Übergang vom Petroleum zum Acetylen hat in unserem Dorf nicht stattgefunden. Über die Gründe und die Straßenbeleuchtung kann man in einer Novelle von Pirandello Erheiterndes nachlesen, die in einem Dorf in der Nähe, Milocca, spielt (Das ist kein Phantasiename; es hatte damals wirklich diesen Namen, der dann von den Faschisten, wer weiß warum, in Milena geändert wurde).

Als auf den gußeisernen Lampenständern die elektrischen Lampen erschienen, geschahen andere Wunder, die früher wie etwas Sagenhaftes behandelt worden waren, da sie nur wenige von der Stadt her kannten, wohin sie geschäftliche oder rechtliche Angelegenheiten oder ihre Hochzeitsreise geführt hatten. Durch die Elektrizität oder gleichzeitig mit ihrer Einführung wurde in den Schwefelgruben die Kinderarbeit abgeschafft, der Einsatz von Eseln und Mulis beim Mahlen des Schwefels und Steinsalzes hörte auf, das Wasser schoß aus den Pumpen, statt Kübel um Kübel nach oben zu kommen; und in der Nacht war wenigstens in den Hauptstraßen jene Sicherheit eingekehrt, daß niemand „ammazzatu a scangiu“, also irrtümlich umgebracht werden konnte. So glaubte man jedenfalls, während die nicht irrtümlichen Morde weiterhin das Dorfleben kennzeichneten, trotz der unerbittlichen Polizeigerichtsbarkeit, die der Faschismus organisiert hatte.

Und es kam das Kino. Das kleine, wunderhübsche Stadttheater wurde zum Kino (und dadurch langsam zerstört). Dort fanden zwei Vorführungen pro Woche statt, am Samstag und am Sonntag. Die Filme wurden „Parts“ genannt: Ein wunderschöner Part, das hieß ein wunderschöner Film. Wir hatten damals, glaube ich, 1929. Ich erinnere mich nicht, mit welchem Film das Kino eröffnet wurde; aber ich sehe vor mir, vage und fluktuierend wie in Träumen, Großaufnahmen mit dem Gesicht von Jack Holt.

Das ganze Dorf erfaßte eine Leidenschaft, ein Fieber, so daß von Montag bis Freitag entweder vom bereits gesehenen Film gesprochen oder über den kommenden phantasiert und Vermutungen angestellt wurden.

Nach 1860 hatte das Dorf nicht nur Verwalter, die ehrlich waren (eine Tatsache, die damals auch anderswo nicht selten war und die heute etwas Legendenhaftes, Mythisches an sich hat), sondern sie waren auch vom Lichte der Aufklärung erleuchtet. Sie hatten die Kanalisationsprobleme gelöst, die Hauptstraßen mit Platten belegt oder geschottert, Wasser zu öffentlichen Brunnen geleitet, die alten Klöster zu Schulen umgewandelt und 1875 von einem Schüler des großen Architekten Basile (Dionisio Sciascia, aber nicht mit mir verwandt) ein kleines aber wunderschönes Theater erbauen lassen. Und bevor es zum Kino wurde und für kurze Zeit danach, waren in dem Theater große Kompanien zu Gast, und große Schauspieler hatten an den Wänden der Garderoben ihre Unterschrift hinterlassen (Ich erinnere mich an die von Andrea Maggi, damals ein unvergleichlicher Cyrano).

Das Theater hatte ein Parkett mit 120 Sitzen, zwei Reihen Logen, eine Galerie, die Taubenschlag genannt wurde. Bei Schauspiel- oder Opernaufführungen hatten die Eintrittskarten unterschiedliche Preise; beim Kino wurde der Preis einheitlich, aber die Unterteilung der Zuschauer blieb gleich: die Handwerker gingen weiterhin ins Parkett, die kleinbürgerlichen Angestellten und die Frauen in die Logen, Bergarbeiter und Bauern auf die Galerie. Aber — und das war neu — die Galerie war jetzt auch voller Buben; Buben, die noch in der Volksschule ihre Lehre begonnen hatten und Zigarettenstummel, Flüche und Obszönitäten zur Schau trugen — Obszönitäten, deren Bedeutung ihnen nicht klar war; ein Alter, das ihre, in dem man, wie ein Pädagoge es gut ausdrückt, mehr Worte als Dinge hat. Und der Funktion des Kinos, ihnen damals die Dinge zu enthüllen, muß in gewissem Maße Rechnung getragen werden.

Wenn die Perser von Montesquieu um 1930 in ein Kino in einem sizilianischen Dorf geraten wären, hätten sie den Eindruck gehabt, daß das Schauspiel in dem bestand, was sich zwischen den Zuschauern abspielte, und zwar besonders zwischen denen auf der Galerie und denen im Parkett. In dem Film, den ich gerade gesehen habe, Nuovo Cinema Paradiso von Giuseppe Tornatore, ist das alles verwoben, und ich kann seine Wahrhaftigkeit nicht nur bestätigen, sondern der Leser kann in manchen meiner weiter zurückliegenden Passagen („Sizilianische Verwandtschaft“) ähnliches finden.

Da ein Onkel von mir, ein städtischer Beamter, die Leitung des Kinos innehatte, war ich ein privilegierter Zuschauer: Ich war immer in einer Loge und manchmal sogar in der Mittelloge, die Fürstenloge genannt wurde (Ich habe den Fürsten nie in der Loge gesehen, vielleicht mochte er das Kino nicht, vielleicht war er Theaterliebhaber und haßte es sogar). Diese Loge hatte den Vorteil, daß sie neben dem Projektionsraum war, in den ich in den Pausen schlüpfte, und dort nicht nur die Filmstückchen beschlagnahmte, die bei jeder Vorführung verstreut wurden, sondern es gelang mir auch, den Vorführer manchmal zu überreden, mir einige der suggestivsten Aufnahmen herauszuschneiden. Ich hatte eine Sammlung.

Durch das Privilegium, in der Loge zu sein, war ich auch vor der Spucke sicher, die vom Balkon herunterregnete. Das Spucken war nicht nur schlicht und einfach Ausdruck von „vastaseria“, Ungezogenheit, sondern ein Zeichen der Entrüstung, der Verachtung für die gemeinen, verräterischen und grausamen Charaktere, die in keinem Film fehlten. Jedenfalls wurde so begonnen, aus Entrüstung. Aber auf die Proteste hin, die sich vom Parkett erhoben und die sich fast alle zu der Beleidigung „figli di puttane“, Hurensöhne, verdichteten, wurde das Spucken durch hinuntergeworfene Orangenschalen und Pfirsichkerne ergänzt (je nach Jahreszeit); bis sich in dem Moment, als die Würfe am heftigsten wurden, Gemeindepolizei und Carabinieri, die im Parkett den Film genießen wollten, entschlossen, auf den Balkon zu gehen, wo sie wahllos Ohrfeigen und Fußtritte austeilten. So drang auch wieder der Klang des Klaviers durch: Walzer von Strauß, Romanzen von Tosti, Lieder von Piedigrotta, Erheben wir freudig die Kelche und Liebe mich, Alfredo, die zum Repertoire der alten, männlichen und jähzornigen Pianistin gehörten, die die Gemeinde miserabel bezahlte.

Der Film von Tornatore hat mich, obwohl er sich auf spätere Jahre bezieht, auf die Jahre des „Sprechfilms“, berührt und gerührt in der Erinnerung an die ferneren Jahre; die Jahre meines Kinos, meines richtigen Kinos: des Kinos, das ich eher als still denn als stumm bezeichnen möchte. Ich zehre von ihm seit einer Zeit, in der sonst fast überall bereits der Sprechfilm vorherrschte, weil ich, würde ich sagen, den Vorteil hatte, in einem Dorf zu leben, in das alles mit großer Verspätung kam (Zu meinen Erinnerungen gehört die Ankunft des ersten Automobils, des ersten Radios, des ersten Bubikopfs, der ersten weiblichen Achselhöhlen, nackt und rasiert).

Den ersten Tonfilm habe ich gesehen, als ich mich auf meiner ersten Reise außerhalb des Dorfes befand, in Palermo — 1933. Als ich in den Saal ging, hatte ich das Gefühl eines ohrenbetäubenden, schwindelerregenden Lärms, ja, ich verstand nicht einmal. Um zu verstehen, blieb ich drinnen, um mir den Film ein zweites Mal anzusehen. Es war The Sign of the Cross, er gefiel mir sehr. Aber noch lieber kehrte ich in meinem Dorf zu den alten Stummfilmen zurück. Und Francesca Bertini, Pina Menichelli, Diana Karenne und Lupe Velez lösten in mir mehr Bewunderung, Begehren und — warum es nicht zugeben? — schwärmerische Gefühle aus als Elissa Landi und andere neue Diven. „Je t'adore à l'égal de la voûte nocturne, o vase de tristesse, o grande taciturne“. Der Nachthimmel, die Traurigkeit, die Stille: die Erinnerung an dieses Kino, an diese Diven, ist für mich unwiderstehlich.

Doch der Stummfilm, der eine Wende in meinem Verständnis für das Kino darstellte, in meiner Liebe, in meinem Wunsch, sogar Kino zu machen (bis über die zwanzig hinaus träumte ich davon, Regisseur, Drehbuchautor zu werden), war der Film von Marcel L'Herbier, der nach Mattia Pascal von Pirandello gedreht worden war. Das war ein anderer Film, er eröffnete, schien mir, andere Möglichkeiten. Das war eher ein Verdienst Pirandellos als L'Herbiers. Aber ich werde jetzt nicht Dinge wieder schreiben — und ihnen den Sinn späterer Zeiten hinzufügen —, die ich schon geschrieben habe.

Also kam der Tonfilm; auf den ich, mit einiger verbliebener Nostalgie, die ganze Liebe übertrug, die ich für den Stummfilm verspürt hatte. Da ich inzwischen in Caltanissetta studierte, hatte ich die Möglichkeit, öfter Filme zu sehen: einen pro Tag und manchmal auch zwei. Jedes Jahr füllte ich ein Heftchen mit Bemerkungen über die gesehenen Filme. Ich hatte, bevor das die Zeitungen machten, eine Art der Beurteilung mit Sternchen erfunden: fünf waren die Höchstnote. Das Seltsame ist, wie ich vor ein paar Jahren entdeckte, daß Gesualdo Bufalino, den ich nicht kannte, damals das gleiche tat. Eigentlich nicht so seltsam, bei näherem Nachdenken. Denn für ihn, für mich, für andere unserer Generation und unserer Interessen war das Kino damals alles. Alles. So wie dann, mit einem gewissen Abstand an Jahren, für Manuel Puig. Wer es noch nicht getan hat, der lese sein Verraten von Rita Hayworth. Er wird darin eine genauere Darstellung der Seelenzustände finden, die ich zu beschreiben versuche.

Ich fühle mich jedoch nicht von Rita Hayworth verraten (nur um es scherzhaft auszudrücken), sondern vom Kino. Es ist etwas anderes geworden, für das es eigentlich keinen Bedarf gab, außer für elendiglich „bedürftige“ Massen: Es ist zu einer Parodie der Literatur geworden, einer Parodie der Malerei, einer Parodie der Avantgarde einer jeden Sache, die nach Avantgarde aussieht.

Für das Kino wie es war, ist der Film von Tornatore eine Art Requiem. Das Kino, das war, das Kino, das Teil unserer Tage und unseres Lebens war. Ich habe gehört, daß etwas Ähnliches bei Ettore Scola vorkommt, den ich noch nicht gesehen habe, mit demselben Thema, derselben Melancholie. Und es ist kein Zufall, daß beide Filme fast gleichzeitig erdacht und realisiert worden sind. Für beide finden sich Vorahnungen in gewissen Spielereien von Woody Allen, aber der Seelenzustand, dem ein Film wie der von Tornatore entspringt, ist der gleiche wie in der Autobiographie von Frank Capra, die Tornatore vielleicht nicht kennt. Es ist ein Buch, das ein Film von Capra sein könnte. Ich würde es gern ausführlich rezensieren (und mit einigen Bezügen auf einen Essay von Cecchi über Capra). Doch inzwischen: „Ich habe zur Schaffung des goldenen Zeitalters des Kinos beigetragen, zum Zeitalter, in dem die Kinoschaffenden im Hollywood der 30er und 40er Jahre — Cecil B. De Mille, John Ford, Henry King, Leo McCarey, George Cukor, Sidney Franklin, Victor Fleming, W.S. Van Dyke, Clarence Brown, Ernst Lubitsch, William Wellmann, Mervyn Le Roy, Frank Borzage, Billy Wilder, Michael Curtiz, Alfred Hitchcock, Howard Hawks, William Wyler, King Vidor und George Stevens — es verstanden, das Publikum an der Gurgel zu packen und dazu zu bringen, vor Lachen zu brüllen oder vor Rührung zu weinen, es zu terrorisieren...“ Er hat sich fast an alle erinnert, die das große amerikanische Kino geschaffen haben. Er hat nur Joseph von Sternberg und Rouben Mamoulian vergessen, die mir jedoch in besonders teurer Erinnerung geblieben sind.

Aus dem Italienischen

von Susanne Costa

C'era una volta in cinema ist erschienen in Fatti diversi di Storia letteraia e civile , Editione Sellerio.