Irak ist nicht Vietnam

■ Ein Essay von Michael Walzer

1935 fiel Mussolini über Äthiopien her, und der Völkerbund beschloß unverzüglich Sanktionen gegen Italien. Die europäische Linke unterstützte diese Sanktionen, war jedoch nicht bereit, zu ihrer Durchsetzung Gewalt anzuwenden — sie wollte für Haile Selassies Reich weder kämpfen noch mit Kampf auch nur drohen. Die Sanktionen wurden nicht durchgesetzt und blieben erfolglos.

Seitdem hat man dazugelernt: Die meisten Menschen auf der Linken waren diesmal dafür, gegen den Irak nach dessen Invasion in Kuwait ein Embargo militärisch durchzusetzen, und viele waren auch bereit, mit dem Krieg zu drohen — dieses Mal zur Verteidigung des feudalen Emirats der Familie Al Sabah. Es war ihnen klar, daß nur der Aggressor entscheidet, wer sein Opfer sein soll; die Opfer müssen keine hehren Lichtgestalten sein — und gewöhnlich sind sie es auch nicht. Aber Aggression sollte dennoch nicht ohne Widerstand möglich sein. Regimes wie die Mussolinis oder Saddam Husseins sollten, wenn sie ihre Grenzen überschreiten, auf bewaffneten (nicht nur rhetorischen) Widerstand stoßen.

Die Mussolini-Analogie scheint mir besser geeignet als die Analogie zu Hitler (auch wenn Saddam Hussein über eine Militärmaschinerie gebietet, die weitaus gefährlicher ist als die Mussolinis). Diese Analogie wird den Proportionen besser gerecht, und sie führt uns nicht in Versuchung, uns in einer apokalyptischen Bilderwelt zu verlieren. Dennoch sollten wir die Übel des irakischen Baathismus nicht unterschätzen. Es handelt sich um das erfolgreichste Beispiel eines faschistischen Regimes in der Dritten Welt — es befindet sich, ausgerüstet mit der Technologie der Ersten Welt, auf einem Feldzug der Expansion. Ich betone diesen Begriff eines Feldzugs, eines Projekts, eines politisch-militärischen Programms, weil das für unsere Einschätzung des Angriffs auf Kuwait wichtig ist.

Im Gegensatz zur konventionellen Meinung sind moralische Urteile nicht notwendig absolut; es geht dabei — ebenso wie bei der Frage nach Schönheit oder Nützlichkeit — um Abstufungen. Aggression ist immer ein Unrecht, aber am strengsten beurteilen wir sie, am bedrohlichsten erscheint sie uns, wenn sie nicht als offensichtlicher und unmittelbarer Endpunkt auftritt, sondern als Bestandteil einer Serie. So auch der Angriff auf Kuwait: das war nicht die erste irakische Aggression, noch war es mit einiger Wahrscheinlichkeit die letzte. Tatsächlich wird es, je mehr wir über die irakischen Waffenkäufe in Europa und den Vereinigten Staaten und die militärische Mobilisierung in diesem Land erfahren, immer deutlicher, daß Kuwait — selbst nach dem langen und blutigen Krieg gegen den Iran — nur ein Anfang war. Deshalb muß man betonen (was immer wir sagten oder nicht sagten, taten oder nicht taten, als Indien in Goa einfiel, Indonesien in Osttimor, die Türkei in Nordzypern, China in Tibet), daß Wesen und Praxis dieses Regimes die bewaffnete Opposition rechtfertigen.

Es ist jedoch eine schwierige Frage, ob und wann diese Opposition tatsächlich zum Krieg führen sollte. Wie lange muß man nach politischen Lösungen suchen? Wie lange sollte man mit einem Angriff drohen, ohne auch wirklich anzugreifen? Diese Fragen wären von vornherein entschieden, wenn die Kuwaitis gegen alle Wahrscheinlichkeit die Invasionsarmee für einige Wochen aufgehalten hätten und die amerikanischen oder Koalitionsstreitkräfte ihnen nur zu Hilfe gekommen wären. Das Tempo der Eroberung bedeutete, daß diese Fragen wohlüberlegt und kühlen Kopfes beantwortet werden mußten (und der Krieg begonnen werden mußte). Dennoch fanden zwischen August und Januar viele Verhandlungen statt, und ich möchte behaupten, daß man sich ernsthaft bemühte, den Krieg zu vermeiden. Die Strategie, Saddam Hussein mit einer Drohung und einem Ultimatum und einer vagen Zusicherung von Frieden und Sicherheit zu einem Rückzug aus Kuwait zu bewegen, war vielleicht nicht die bestmögliche Strategie, aber sie war nicht unvernünftig: Die meisten Beobachter, die sie vor dem Hintergrund ihrer eigenen Vorstellung rationaler Entscheidungsfindung beurteilten, hielten einen Erfolg für möglich. Tatsächlich machte diese Strategie den Krieg zu einer Gewißheit. Sobald das Ultimatum verstrichen war, mußte die Koalition kämpfen oder dem Aggressor das Feld räumen. Wahrscheinlich hätte man zu diesem Zeitpunkt nicht mehr auf das Mittel der Blockade zurückgreifen können, denn Saddam Husseins Sieg hätte nicht nur militärische, sondern auch politische Konsequenzen gehabt. Einige Jahre später hätte sich die gleiche Frage erneut gestellt: kämpfen oder nicht kämpfen? — in beiden Fällen unter größeren Gefahren als jetzt.

Aber all das ist Geschichte. Nach Beginn des Krieges sehe ich Hoffnung nur noch in einer entscheidenden Niederlage der irakischen Streitkräfte. Diesen Krieg sollten amerikanische und europäische Linke kritisch unterstützen. Nicht bedingungslos unterstützen (es gibt keinen Krieg, der das verdient), denn wir müssen darauf achten, daß die Ziele und die Methoden dieses Krieges nicht eskalieren. Daß dieser Krieg gerecht bleibt, hängt von diesen beiden Faktoren ab; wie so häufig ist Gerechtigkeit auch in diesem Fall eine Frage der Grenzen.

Das legitime Ziel des Krieges ist es, die Aggression zu beenden und dem Aggressor Einhalt zu gebieten. Würden die Kämpfe beendet, solange die irakische Armee und ihre Fähigkeit zur Kriegsführung noch intakt sind, dann würde das Embargo erneuert werden müssen, mindestens hinsichtlich militärischer Technologie. In jedem Fall sollten wir für die Zeit nach dem Kriege irgendeine Art Waffenkontrolle anstreben. Übrigens fällt dies in die besondere Verantwortung der Bürger all jener Länder, die dem Irak seine Massenvernichtungswaffen verkauften. Andererseits ist Waffenkontrolle ein politisches, kein militärisches Ziel — das gilt auch für all die anderen schönen Dinge, die man sich für den Nahen Osten wünschen könnte: Demokratisierung, Neuverteilung der Öleinkünfte, eine Gesamtfriedensregelung. Die Diskussion dieser Fragen ist zweifellos wichtig — mit der Diskussion um die Ziele und die Führung des Krieges hat sie jedoch nichts zu tun und sollte sie auch nichts zu tun haben.

Angesichts beschränkter Ziele sollte der Krieg auch mit beschränkten Mitteln geführt werden: indem die Zivilbevölkerung so weit als möglich geschont und jede Politik abgelehnt wird, die Iraks nichtmilitärische Industrieanlagen zum Ziel machen will. Die Möglichkeiten zur Eskalation sind zahlreich und offensichtlich; sie werden sich noch ausweiten, sobald der Bodenkrieg begonnen hat. Hier sollte die Linke ihre eigene Grenze ziehen. „Die Truppen heimbringen“ ist eine sehr schlechte Parole, denn sie setzt ein Ergebnis voraus, das nur als Sieg Saddam Husseins interpretiert werden kann. Man sollte lieber darüber reden, was die Truppen tun und nicht tun sollten, und dann darüber, was die Vereinigten Staaten und die Koalition tun sollten, sobald die Truppen ihre Aufgabe erledigt haben.

Ein letztes Wort an die Freunde in Europa. Viele Jahre lang war Antiamerikanismus reflexhaft die Politik der Linken — sogar der amerikanischen Linken. In der Debatte um den Golf war davon bislang nichts zu erkennen, und das ist immerhin ein kleiner Fortschritt in einer trüben Zeit. Die Vereinigten Staaten bedürfen der Kritik von innen wie von außen, aber diese Kritik ist nutzlos, wenn sie sich nicht immer neu mit jeder historischen Situation auseinandersetzen kann und sich zu elementaren Unterscheidungen unfähig zeigt. Irak ist nicht Vietnam; es besteht nicht einmal eine Ähnlichkeit. Vietnam war ein ungerechter Krieg, ein Krieg gegen das vietnamesische Volk, in dessen eigenem Land, unter ungeheuren Kosten. Der Krieg erzeugte eine starke Oppositionsbewegung, vor allem in den USA (einen Großteil meiner politischen Erziehung erhielt ich in dieser Bewegung).

Heute sind diese alten Oppositionellen über den Krieg am Golf zutiefst zerstritten, und diesen Streit sollte man respektieren. Wir müssen sehr genau über diesen Krieg nachdenken und bei der Verteidigung unserer Positionen ideologischen Dogmatismus vermeiden. Die Diskussionen innerhalb der amerikanischen Linken liefern ein unerwartetes Modell. Im ganzen Land war der demokratische Prozeß lebendiger, als es in Kriegszeiten üblich ist. Das garantiert keinesfalls die richtigen Entscheidungen — man erinnere sich an die Athener Bürger, die sich nach ernsthafter Diskussion für die Expedition nach Sizilien entschieden —, aber wer die Demokratie wertschätzt, sollte es nicht ignorieren.

Ich zweifle nicht daran, daß die amerikanischen Führer in diesem Krieg sehr gemischte Motive haben; der Sieg über die Aggression ist nicht alles. Die Vorstellung, sie kämpften — nach irgendeinem alten Modell eines imperialistischen Krieges — für Öl, ist albern; ihr Ehrgeiz reicht viel weiter. Wenn dieser Ehrgeiz die Europäer beunruhigt, können sie viel dazu beitragen, ihn unter Kontrolle zu halten, indem sie einen größeren Teil der Kriegslasten und der Bürden des künftigen Friedens auf sich nehmen. Die meisten Amerikaner wären froh, diese Bürde zu teilen, selbst wenn dies dazu führen würde, daß unsere Führer im Befehl eingeschränkt würden. Die amerikanische Hegemonie im Nahen Osten ist ohnehin eine Phantasie, aber es wäre sicherlich besser, wenn der Irak von vielen besiegt würde. Das wäre auch nur gerecht — für den Aufstieg der irakischen Macht waren schließlich ebenfalls viele verantwortlich. Und vielleicht können wir von einem gemeinsamen, internationalistischen Engagement und dem Sieg über die Aggression auch erhoffen, daß sie sich als begrenzt, vorsichtig und verhältnismäßig schnell erweisen.

Michael Walzer ist Professor für Sozialwissenschaften in Princeton und u.a. Autor der Bücher Gibt es den gerechten Krieg? (Klett-Cotta) und Exodus und Revolution (Rotbuch Verlag). Im Frühjahr erscheint Zweifel und Einmischung. Gesellschaftskritik im 20. Jahrhundert (S. Fischer).