Alle Menschen sind schlecht

■ Claude Berris neuer Film „Uranus“ eröffnete gestern den Berlinale-Wettbewerb: ein versöhnlerischer Film über Kollaboration

Da stakst er durch heitere Bächlein, Stirn und Hosenbeine hochgekrempelt. Beim Betrachten einer Libelle läßt er sich zu Sentenzen hinreißen: „Gewiß versteht sie uns...“ Da sitzt er in reinlicher Stube und deklamiert vor der Blümchentapete die Philosophie des Hauspantoffels. Und während es draußen donnert und blitzt, beichtet Onkel Noiret, seines Zeichens Dorfschullehrer, daß ihm jede Nacht um elf der schwarze Planet Uranus erscheine, Symbol des Negativen und Schlechten im Menschen. Theatralisch ballt Onkelchen die Fäuste, läßt seine Unterlippe etwas zittern, noch ein wenig Falsett in die Stimme — und: Alle seien wir Heuchler, alle sind wir Schufte.

Dann das Summum. Die Stimme setzt sich, ein Regenbogen erscheint im Fenster, Vögel zwitschern, Noiret seufzt: „Wie ist das Leben schön!“ Claude Berris Uranus: eine Ode auf den kleinen Mann.

Die Geschichte des „Uranus“ wurde 1947 von Marcel Aymé geschrieben, als Polemik gegen das, was Aymé als Befreiungsheuchlerei empfand: die Abrechnung mit den Kollaborateuren. Aymé selbst war freier Kollaborateur bei den Zeitschriften 'Je suis partout‘ und 'La Gerbe‘, in denen von der Schönheit der Welt berichtet wurde, sofern diese nur judenfrei wäre. Vichys 'Stürmer‘. Aber das macht nichts, denn, so lehrt es uns Uranus, jeder Mensch ist schlecht, aber jeder hat auch gute Gründe dazu und ist doch letztlich ein wunderbares Geschöpf. Wie eine Libelle eben.

Die Handlung des Films: Der nazitreue Journalist Maxime Loin versteckt sich kurz nach Kriegsende bei einem ehemaligen Petainisten. Zur Freude von dessen Gattin und unter Mitwisserschaft des somnambulen Untermieters Philippe Noiret. Voller Tücke streut jedoch ein kommunistischer Eisenbahner das Gerücht, der Journalist habe sich bei Kneipier Léopold (Gérard Depardieu) versteckt, einem cholerischen Alkoholiker, dem bei Racine die Tränen kommen.

Weil der brave Léopold außerdem zuviel über die Machenschaften eines honorigen Ex-Kollabos (Michel Galabru) heraustrompetet, wird er in putativer Notwehr erschossen und stirbt, torkelnd, Stühle zerreißend und mit „Andromache“ auf den Lippen einen der längsten Tode der Filmgeschichte. Doch der Film geht weiter. Der einquartierte Kommunist (Michel Blanc) steigt der Tochter des Petainisten nach (Florence Darel) und stößt dabei auf den gesuchten Journalisten. Der ist zwar gerade mit der „Fantaisie pour Piano“, KV 475, beschäftigt, wird aber nichtsdestotrotz abgeführt. Hätte er mit dem Kommunisten ja genauso gemacht. Schluß.

Uranus spielt im Zwielicht. In der Dämmerung, hinter zugezogenen Vorhängen oder in der Remise gestehen die Personen einander ihre kleinen Gemeinheiten, ihre niedrigen Geheimnisse und feigen Alltagsphilosophien. Berri: „Ich wollte zeigen, daß die Leute weder ganz weiß sind, noch ganz schwarz.“ In seinem Film wird ein Grau daraus. Uranus erscheint als eine Folge von Zwiegesprächen vor Hintergründen, die flach wirken wie Fototapeten. Ein Kino ohne Bilder.

Geredet wird dafür umso mehr. Da ist der örtliche Robespierre, der mit leuchtenden Augen vom Proletariat kündet, aber einzig seine Mama liebt; da ist der feiste Kriegsgewinnler, dessen einzige Freude das Leid der anderen ist, etc. Ein Figurenkabinett wie auf dem Jahrmarkt, starr und ohne innere Entwicklung. Wir nehmen's zur Kenntnis und bleiben ungerührt.

Die Figuren, die 1947 in polemischer Absicht als Karikaturen gezeichnet wurden, sind von Berri überwiegend übernommen worden. Alle sind sie sich gleich in ihrer Feigheit, die alten wie die neuen Herren und Wasserträger. Daß die Kommunisten zu Zigtausenden von den Kollaborateuren füsiliert worden sind, wollte Aymé nicht als Entschuldigung für ihr Verhalten während der brutalen „Säuberungen“ nach dem Krieg gelten lassen.

Die Bewohner des Uranus leben als soziale Nomaden, als isolierte Gestalten ohne Geschichte. Die einzige Figur, die neue Beziehungen zwischen den Personen stiftet und als Mann und Opfer geliebt wird, ist der nazistische Journalist Loin. Das mag erstaunen bei einem Regisseur, der sich als jüdisches Kind selbst vor Gestapo und Vichy-Miliz verstecken mußte. „Aus dem Kollabo die einzige Person zu machen, um die Begierde kreist, läuft darauf hinaus, sich auf die Seite des Stärkeren zu stellen. Betrüblich“, resumiert Serge Toubiana in den jüngsten 'Cahiers du Cinéma‘. Berri rechtfertigt sich damit, „keinen engagierten Film“ machen zu wollen: „Ich wollte ein Buch auf die Leinwand bringen, das mir gefällt und einen Autor, den ich für talentierter halte als die heutigen Szenaristen.“

Als Alain Resnais 1956 seinen Film Nacht und Nebel drehte, verlangte die Zensur, ein französisches Käppi vom Haupt eines Täters wegzuretuschieren. Als Marcel Ophüls 1969 Le Chagrin et la Pitié drehte (teilweise am gleichen Schauplatz wie Berri: im Zentralmassiv), löste er eine Welle von Protesten und Verboten, von Scham und Selbstanklagen aus. Der Fernsehfilm über die Kollaboration wurde jahrelang nicht gesendet, weil er „Mythen zerstört, die die Franzosen noch brauchen“, so der damalige Fernsehchef.

Uranus wurde Mitte Dezember in Paris uraufgeführt. Ausgelöst hat er nichts. Ein einziger PCF-Senator indignierte sich, sonst stieß Berris Film auf Gleichgültigkeit. Warum? Vielleicht brauchen die heute Lebenden keine Mythen mehr, vielleicht ist Vichy ein ebenso ferner kalter Stern wie Uranus. Die französische Gesellschaft definiert sich eben nicht mehr über die großen, identitätsstiftenden Erzählungen des Gaull- und Kommunismus. Vielleicht haben Aymé und Berri ja recht, und wir sind alle längst der Indifferenz verfallen, unfähig zur Empörung. Vielleicht aber hat Uranus selbst nichts weiter verdient als Gleichgültigkeit. Alexander Smoltczyk