Gestern eröffnet: Berlinale '91
: De Hadeln will Frieden

■ Die ersten Filmfestspiele nach dem Ende des Kalten Krieges sollten ganz im Zeichen Europas stehen. Aber nun fällt der Schatten des Golfkriegs über das Festival.

Noch Anfang Januar sah alles ganz anders aus: Die Berlinale '91 hat Europa zum Schwerpunkt, lauteten die ersten erfreuten Meldungen. Gleich vier italienische Filme, darunter der neue Scola, drei französische, zwei britische, ein irischer und zwei deutsche Filme finden sich im Hauptprogramm, daneben nur vier US-Produktionen: ein deutliches Signal also gegen die Übermacht der Amerikaner auf dem Filmmarkt 1990 und die überfällige Reaktion auf die Medienschelte gegen die US-Lastigkeit der beiden vorangegangenen Festivals. Und mehr noch: Das Programm der ersten Filmfestspiele nach dem Fall der Mauer liest sich, als sei es gezielt zu eben diesem Fall und seinen Folgen zusammengestellt. Der Eröffnungsfilm, Claude Berris Uranus, handelt von der Kollaboration im Vichy-Frankreich, von Mitläufertum und Verstrickung in einem Repressionssystem also und von der historischen Aufarbeitung einer Verstrickung. Ebenfalls am ersten Tag zeigt das Forum des jungen Films Marcel Ophüls' Dokumentation über den 9.November, einen Film über den Fall der Mauer von just jenem Regisseur, dessen Fernsehdokumentation zum Thema Kollaboration, Le Chagrin et la pitié (1969) in Frankreich lange tabu war. Ophüls' Novembertage sind zudem Teil einer breit angelegten deutsch-deutschen Serie im Forum von insgesamt 14 Dokumentarfilmen, darunter Jürgen Böttchers Die Mauer, Sibylle Schönemanns Verriegelte Zeit, Andreas Voigts Leipzig-Studie Letztes Jahr Titanic und Ulrike Ottingers Countdown.

Die zahlreich wie nie angereisten Journalisten — über 2.500, das sind 500 mehr als im Vorjahr — und Gäste können ihre Neugier auf die wiedervereinigte Stadt und auf die ersten filmischen Beschäftigungen mit den Folgen der Einheit also aufs Schönste befriedigen. Sogar die Kombination der beiden deutschen Wettbewerbsbeiträge, Roland Gräfs Christoph- Hein-Verfilmung Der Tangospieler aus dem Osten und Franz Seitz' Feuchtwanger-Adaption Erfolg aus dem Westen, verspricht Aufschluß: Beide literarischen Vorlagen handeln von unliebsamen Einzelgängern, die zwar keine Rebellen sind, aber dennoch von Staats wegen in die Knie gezwungen werden: der Tangospieler vom SED-Regime, Feuchtwangers Protagonist von den Vorboten des Nationalsozialismus. Dazu kommt die Retrospektive zum Thema „Kalter Krieg“: 65 Spielfilme aus Ost und West, Propagandaschinken, Politthriller und Komödien zu Themen wie The Commies, Republikflucht, Top Secret — ausführlicher dürfte die Geschichte des Ost-West-Konflikts im Kino noch nie vorgestellt worden sein. Und das pünktlich zum Fall des Eisernen Vorhangs — was will man mehr!

Aber nun ist alles ganz anders. Seit Beginn des Golfkriegs spricht kaum noch einer von der deutschen Einheit. Berlinale-Chef Moritz de Hadelns persönliches Engagement für die Rettung der Babelsberger Defa-Studios und für das „Kino in NÖBS“ (Neue östliche Bundesländer), für das er sich im Grußwort ausdrücklich stark macht — wen interessiert's noch? Seit das Festival im Schatten des Krieges steht, wird de Hadeln nur noch nach verschärften Sicherheitsvorkehrungen befragt und nach den Stars, die daheim bleiben (Kevin Costner und Robert Mitchum kommen tatsächlich nicht, im Falle Costners aber weniger wegen Flugangst als wegen überteuerter Reiseversicherungen). Auf die grundsätzliche Frage, ob man es angesichts des Krieges moralisch überhaupt verantworten kann, ein Filmfest zu feiern, konterte de Hadeln schon vor drei Wochen mit der Gegenfrage: „Sollen wir alles sein lassen und nur noch CNN sehen?“ Das Gerücht, die Berlinale falle aus, sei ohnehin eine Falschmeldung aus den USA gewesen, so de Hadeln gegenüber der taz. Dort sei der (tasächlich abgesagte) Münchener Filmball mit den Berliner Filmfestspielen verwechselt worden. In der Festivalleitung hätte es daraufhin sofort Diskussionen gegeben, auch zusammen mit Forum-Chef Ulrich Gregor. Ergebnis: „Gerade in einem solchen Moment ist der Dialog, der auf der Berlinale schon immer gepflegt wurde, besonders wichtig.“ De Hadelns Hinweis, die Berlinale sei „keine Faschingsveranstaltung, sondern ein Arbeitstreffen“ mit „völkerverbindender Funktion“, hat sich sogar Bürgermeister Eberhard Diepgen zu Herzen genommen: In seinem Grußwort prägt er die treffend-paradoxe Formel vom „Arbeitsfestival“. Auch der Eröffnungsempfang (de Hadeln: „Kein Glamour, ein Treffpunkt“) findet statt.

Forum-Leiter Ulrich Gregor: „Wir wollen ja nicht ablenken, sondern gerade hinführen auch auf politisch und aktuell brisante Themen.“ Die Befürchtung, daß der deutsch- deutsche Schwerpunkt wegen des Krieges in den Hintergrund rückt, hegt er nicht: „Wir hoffen, daß die Leute kommen und sich diese Filme anschauen.“ Abgesagt habe unter den Forum-Gästen lediglich der Leiter der israelischen Kinemathek, ansonsten: „Alles läuft letztlich unter der Flagge Kommunikation.“ So kurzfristig könne ein so vielschichtiges Gebilde wie ein Filmfestival auf aktuelle Ereignisse sowieso nicht reagieren: Die beiden Forum-Filme, die sich mit dem Nahen Osten beschäftigen, Nach Jerusalem von Ruth Beckermann und Cheb aus Algerien, der die islamische Gesellschaft thematisiert, seien so oder so im Programm. Auch den iranischen Film Der Biß der Schlange über die Folgen des iranisch-irakischen Krieges und „die Spuren und psychischen Zerstörungen von Krieg überhaupt“ hätte das Forum gerne gezeigt, so Gregor. Aber der Film wurde in dem Wettbewerb aufgenommen.

Wünschenswert ist es ohnehin nicht, daß Politdiskussionen das Festival dominieren. Ein „cineastisches Monument“ (Rohmer) wie Jacques Rivettes 13-Stunden-Film Out 1 (erstmals seit 1971 komplett zu sehen), oder Kleinode wie Aki Kaurismäkis I hired a contract killer mit Jean-Pierre Léaud oder der neue Film von Stephen Frears The Grifters wiegen mehr als etwa der oberflächlich politische Film The Russia House im Wettbewerb, Fred Schepisis Verfilmung von John Le Carres Ost-West-Spionage-Schmonzette, Motto: Die Liebe siegt. Ein näherer Blick auf die Auswahl der US-Filme im Wettbewerb und Hauptprogramm erstaunt ohnehin. Ausgewählt wurden überwiegend potentielle Kassenschlager, u.a. Coppolas Der Pate, III und Kevin Costners Der mit dem Wolf tanzt, ein Wildwest- Epos über die Freundschaft eines Weißen mit den Sioux-Indianern. Autorenfilme wie etwa Woody Allens Alice (Filmstart 28. Februar) bleiben außen vor; Peter Weirs Green Card (mit Gérard Depardieu und Annie Mac Dowell), die schönste Liebesgeschichte seit Sex, lies and videotapes, ist erst im letzten Moment ins Nachtprogramm aufgenommen worden. So sehr die Reduzierung der US-Präsenz zu begrüßen ist, so bedauerlich ist das neuerliche Setzen auf die Publikumsrenner: Kevin Costners „Friedensfilm“ (de Hadeln: „Nehmen Sie statt der Sioux die Araber und statt Amerika damals die USA heute“) hat in den USA bereits 100 Mio. Dollar, drei Golden Globes und 12 Oscar-Nominierungen kassiert: Die Weihen eines Filmfests hat er für die Kinoauswertung in Europa wahrlich nicht nötig. Am Ende bekommt er wegen Werbens für Völkerverständigung noch den Bären.

De Hadeln jedenfalls will Frieden. Bleibt zu hoffen, daß sich diesmal kein Kriegspropaganda-Schinken im Wettbewerb findet wie im vergangenen Jahr mit Winterkrieg. Damals titelte die taz: „De Hadeln will Krieg“. Christiane Peitz

Zu den Filmfestspielen siehe auch Berlinale-Sonderseiten