Stasi-Akten sollen im Lande bleiben

Die Bürgerkomitees zur Auflösung der Stasi legten gestern einen Gesetzentwurf zum weiteren Umgang mit der Stasi-Hinterlassenschaft vor/ Entwurf orientiert sich am alten Volkskammer-Gesetz  ■ Von Wolfgang Gast

Berlin (taz) — Wer zuerst kommt, mahlt zuerst: In der anstehenden Debatte um die notwendige gesetzliche Regelung für die Stasi-Akten-Behörde des Sonderbeauftragten Joachim Gauck haben gestern in Bonn die Mitglieder der Bügerrechtsbewegung der alten DDR als erste einen Gesetzentwurf für den weiteren Umgang mit der Stasi-Hinterlassenschaft vorgestellt. Der Entwurf, der von Mitarbeitern der verschiedenen Bürgerkomitees zur Stasi-Auflösung unter tatkräftiger Hilfe der Grüne- nahen Heinrich-Böll-Stiftung und den wissenschaftlichen Mitarbeitern der Fraktion Bündnis 90/Grüne erarbeitet wurde, soll nach dem Willen der Verfasser die Grundlage für das weitere parlamentarische Procedere abgeben.

Bei der bevorstehenden parlamentarischen Diskussion des Gesetzes wird der SPD eine Schlüsselrolle zukommen. Denn nur wenn der Entwurf der Bürgerkomitees von den Sozialdemokraten übernommen wird, hätte er gute Chancen, angenommen zu werden, und in vielen Punkten stimmt der jetzt vorgelegte Entwurf mit den Vorstellungen der SPD-Mitglieder im Bonner Innenausschuß überein. In der Koalitionsvereinbarung hat sich die Bonner Regierung darauf verständigt, einen Gesetzentwurf nur mit breiter Übereinstimmung im Bundestag zu verabschieden. Ein eigener Gesetzentwurf ist derzeit aber weder bei SPD noch CDU in Planung. Die Christdemokraten haben sich intern darauf verständigt, einen Entwurf des Bonner Innenministeriums abzuwarten, der nach dem Willen Schäubles noch im Februar vorgelegt werden soll.

Über weite Strecken orientiert sich der von den Bürgerkomitees vorgelegte Entwurf an der von der Volkskammer am 24. August letzten Jahres nahezu einstimmig beschlossenen Regelung. Dementsprechend wird in dem vorgeschlagenen Gesetzestext ein weitreichendes Auskunfts- und Einsichtsrecht für all diejenigen festgeschrieben, die von der Stasi bespitzelt, eingeschüchtert und verfolgt wurden. Gleichzeitig soll eine Verwertung der rechts- und verfassungswidrig erspitzelten Daten durch die bundesdeutschen Geheimdienste verboten werden.

In einigen Bereichen geht der Entwurf, dem auch Bonner Ministerialbeamte ein hohes Maß an Sachkompetenz zubilligen, ein ganzes Stück über die bisher geltende Benutzerordnung der Stasi-Akten-Behörde hinaus. Wo diese bislang nur auf die personenbezogenen Daten der Krake Stasi zugeschnitten war, wird die Zuständigkeit der Sonderbehörde in dem jetzt vorgelegten Entwurf auf alle Unterlagen der Stasi, das heißt auch auf Dienstbefehle, Anweisungen und die Unterlagen der mit dem MfS kooperierenden Stellen der ehemaligen DDR, erweitert. Die ausschließliche Zuständigkeit der Sonderbehörden für die Stasi-Hinterlassenschaft wird auch dadurch unterstrichen, daß alle Privatpersonen und Dienststellen — Geheimdienste inklusive — bei Strafandrohung verpflichtet werden, ihre Stasi-Dokumente dem Sonderbeauftragten im Orginal abzugeben.

Weitgehende Akteneinsicht

Einer der „wesentlichen Zwecke des zu beschließenden Gesetzes“ sei die „politische, historische, juristische und persönliche Aufarbeitung“ der Stasi-Vergangenheit, schreiben die Autoren in ihrer politischen Begründung zum Gesetzentwurf. Die Kenntnis der Arbeitsweise und der Strukturen des MfS „war eine entscheidende Voraussetzung für die Auflösung des MfS“. Diese Informationen seien aber nur Stück um Stück an die Öffentlichkeit gelangt, deshalb sei die Geschichte der Auflösung des MfS zu einem „Kampf um die Aufdeckung seiner Tätigkeiten“ geworden. Die Entwicklung einer demokratischen Kultur des wiedervereinigten Deutschlands setze daher die öffentliche Auseinandersetzung mit der Stasi-Vergangenheit „unbedingt“ voraus.

In dem Entwurf ist das Auskunfts- und ein Akteneinsichtsrecht detailliert geregelt. So sollen die Sonderbeauftragten der Bundesregierung und der sechs ostdeutschen Bundesländer Betroffene bereits dann unterrichten, wenn über sie in den Sonderarchiven ein registrierter Vorgang des MfS gefunden wird. Auf schriftlichen Antrag soll dann den Betroffenen Auskunft über „die in den Unterlagen zu seiner Person gesammelten personenbezogenen Daten“ erteilt werden. Unter denselben Voraussetzungen soll ihnen auch die Einsicht in ihre Akten gewährt werden. Sollte die Akteneinsicht den Betroffenen zur Wahrung ihrer Rechte nicht ausreichen, etwa bei Rehabilitations- oder Kassationsverfahren, können ihnen die Unterlagen auch in Form von Kopien — und wenn nötig auch im Original — überlassen werden.

Sollten in den Unterlagen die „schutzwürdigen Angaben Dritter“ vorhanden sein, sieht der Gesetzentwurf die Einsichtnahme in anonymisierte Kopien der Akten vor. Ausdrücklich festgelegt wird, daß die Namen von offiziellen und inoffiziellen Mitarbeitern des MfS nicht unter die schutzwürdigen Daten fallen.

Zentral gegen dezentral

Neben der Stärkung der Betroffenenrechte sieht der Entwurf auch eine dezentrale Struktur der künftigen Stasi-Behörde vor. So sollen die Akten ausschließlich auf dem Territorium der alten DDR und unter der Kontrolle der Landesregierungen und -parlamente verwaltet und aufgearbeitet werden. In den jeweiligen Neuländern sollen dazu von den Parlamenten Länderbeauftragte gewählt werden, unter deren Verantwortung die Sonderarchive mit den Stasi-Unterlagen gestellt werden. Die Länderbeauftragten werden verpflichtet, zusammen mit dem Bundesbeauftragten eine gemeinsame Kommission zu bilden, die sich auf eine gemeinsame Benutzerordnung verständigen und eine reibungslose Zusammenarbeit der Landesbehörden sicherstellen soll. Die Beauftragten müssen vor dem 3. Oktober 1990 BürgerInnen der DDR gewesen sein.

Mit dieser Konstruktion wollen die Bürgerkomiteeler einerseits den Zugriff der Bundesbehörden auf die Stasi-Unterlagen unterbinden, andererseits glauben sie, auf diese Weise die in den Bonner Mahlstrom geratene Behörde des Sonderbeauftragten Jochen Gauck festigen zu können.

Die Frage nach der Struktur der Behörde wird der Dollpunkt der Auseinandersetzungen werden. Eine Länderkompetenz — wie sie die Bürgerkomitees fordern — kann im schlechtesten Fall zu verschiedenen Ländergesetzen führen. Und sollten die Ländergesetze auch einheitlich verabschiedet werden — und dies scheint angesichts der konkurrierenden Interessenlagen von SPD und CDU unwahrscheinlich —, läßt ein dezentrales Modell im Vollzug der gesetzlichen Regelung immer noch erheblichen Spielraum. Wenn beispielsweise in Mecklenburg-Vorpommern einem Betroffenen über die Akteneinsicht hinaus sogar die Kopien seiner Unterlagen mit nach Hause gegeben werden, könnte es passieren, daß demselben Antragsteller in Thüringen mitgeteilt wird, daß seine Personalakte vernichtet wurde, weil die Datenerhebung der Stasi rechtsstaatlichen Grundsätzen widersprochen habe.

Ein weiteres Argument gegen die Dezentralisierung, das unter anderem vom Mitarbeitern des Sonderbeauftragten vorgebracht wird, bezieht sich auf die Struktur der Stasi-Akten und Dateien. Die Stasi war eine strikt zentralistisch organisierte Behörde. Einzelne Dateien und Aktenbestände sind unvollständig — durch Schlamperei im alten Mielke-Ministerium, vor allem aber durch die bewußte Vernichtung von Unterlagen durch Stasi-Mitarbeiter zu Zeiten der Auflösung ihres Apparates. Eine vollständige Auskunft kann den Antragstellern nur gegeben werden, wenn, wie es die Gauck-Behörde bisher macht, eine Anfrage in allen Stasi- Archiven durchgeprüft wird. Wer beispielsweise in Dresden nach der inoffiziellen Mitarbeit eines Mandatsträgers fragt, kann schon deswegen eine falsche, negative Auskunft erhalten, weil der IM-Vorgang in den Stasi-Archiven der Geburtsstadt des Abgeordneten verzeichnet ist. Bei den Auskünften der Stasi-Behörde kommt es aber darauf an, daß sie wirklich erschöpfend sind und weitere Verdächtigungen, Unsicherheiten und Mutmaßungen möglichst ausgeschlossen werden können.

Verbot der Geheimdienst-Verwertung

Ein weiterer Streitpunkt dürfte sich aus dem Ende letzten Jahres verabschiedeten Bundesverfassungsschutzgesetz ergeben. Dort wird in Paragraph 18, Absatz 3, die Zusammenarbeitspflicht von „Behörden des Bundes und bundesunmittelbaren juristischen Personen des öffentlichen Rechts“ mit den Verfassungsschutzämtern des Bundes und der Länder geregelt. Zur Erfüllung ihres Auftrages sind alle Behörden verpflichtet, den Verfassungsschützern alle „erforderlichen Informationen einschließlich der personengebundenen Daten“ zu übermitteln. Im Gegensatz dazu wurde im Einigungsvertrag ausdrücklich festgelegt, daß die personengebundenen Daten der Stasi, die ja auf rechtswidrige Weise erhoben wurden, genau deshalb für die bundesdeutschen Geheimdienste gesperrt bleiben müssen.

Eine Aufhebung dieses Verbotes und einen eigenen Zugang zu den Stasi-Akten haben in den vergangenen Wochen die verschiedenen Ministerien und Geheimdienste gefordert. Der Präsident des Kölner Verfassungsschutzes hat beispielsweise einen „begrenzten Zugang“ zu den Stasi-Archiven mit der „Aufgabenerfüllung“ seiner Behörde begründet. Auch Justizminister Kinkel zog nach. Er forderte eine „sofort greifende Vorfahrtsregelung“ für Richter- und Staatsanwalts-Überprüfungsausschüsse. Diese kämen unter anderem nur deshalb so schleppend in ihrer Arbeit voran, weil an die zentral beim Sonderbeauftragten Joachim Gauck gelagerten Akten nur sehr schwierig heranzukommen sei. Gaucks Behörde, so formulierte es Kinkel, ersticke mit ihren zur Zeit nur etwas mehr als 100 MitarbeiterInnen in einer regelrechten Flut von Auskunftsbegehren.

Das Amt des Sonderbeauftragten leidet in der Tat unter Personalmangel. Ursache dafür ist aber weniger der mangelnde Wille der Mitarbeiter als vielmehr die bei Personalfragen zustimmungspflichtigen Personalräte des Bonner Innenministeriums. Die haben vielfach unter Verweis auf die formalen Einstellungsvoraussetzungen ihr zustimmendes Votum verweigert. Darüber hinaus ist die Gauck-Behörde auf dem Boden der ehemaligen DDR eine der wenigen, die schon nach wenigen Monaten wirklich arbeitsfähig ist und über eine klare innere Struktur verfügt.

Am weitesten reichen bisher die Vorstellungen des innenpolitischen Sprechers der CDU/CSU-Fraktion, Johannes Gerster. Er forderte die Einrichtung zweier Parallelbehörden. Die eine soll mit dem Personal und dem Know-how des Verfassungsschutzes die Bewerber für den öffentlichen Dienst überprüfen. Die andere soll sich um die ehemalige Zentralstelle in Salzgitter gruppieren und die Stasi-Akten auf strafrechtsrelevante Vorkommnisse sichten. Abgesehen davon, daß ein derartiger Verfolgungszwang angesichts Abertausender Verfahren, die eingeleitet werden müßten, gar nicht umsetzbar ist, würde dies die Arbeit der Gauck- Behörde torpedieren. Ein Großteil der Stasi-Akten wäre dann für die anstehenden Gerichtsverfahren über die gesamte Bundesrepublik verteilt. Genaue und sichere Auskünfte könnten dann nicht mehr erteilt werden. Nach Ansicht von Insidern der Gauck-Behörde „wäre das der Tod dieses Amtes“.