Eine Herausforderung an das Gewissen

■ Etwa 6.600 Asylbewerber werden in diesem Jahr nach Thüringen kommen/ Die Zentrale Anlaufstelle Tambach-Dietharz

Erfurt. Schon bevor die ersten Asylbewerber in Thüringen eintrafen, hatten sie Wirbel ausgelöst. Zunächst sollte in Eisenach die Landesaufnahmestelle eingerichtet werden. Doch da liefen die Kommunalpolitiker Sturm. Das Städtchen am Fuße der Wartburg sei eines der bedeutendsten Touristikzentren der Region, führten sie ins Feld. Es käme zu einer unzumutbaren Aufregung unter den Bürgern. Damit sich die Bürger nicht zu sehr „aufregen“ mußten, suchten die Stadtväter weiter. Sie wurden fündig — tief drin im Wald, weit abseits der Touristen. Ein ehemaliges Lager der Gesellschaft für Sport und Technik beim Städtchen Tambach-Dietharz ist nun erste Anlaufstelle für Asylbewerber, die nach Thüringen kommen. Das Haus hatte noch vor einem Jahr als Ferienlager gedient. Robert Dittmeier, Referent der Landesregierung für Flüchtlingswesen, sieht in der Abgeschiedenheit kein Problem. Die Leute könnten sich erst einmal in aller Ruhe akklimatisieren, bevor sie auf die Landkreise und Städte verteilt würden, räsoniert er. Außerdem sei das Haus recht kostengünstig zu betreiben. Der 26 Jahre alte Alexej Morosow aus Sarakow kann nicht begreifen, wieso er in diesem Lager drei Kilometer entfernt von einem kleinen Ferienort unterkommen muß: „In Westberlin waren wir unter Menschen, aber in Tambach-Dietharz sind wir von der Welt abgeschnitten. Kein Telefon, keinerlei Busverbindung in den nächsten Ort.“ Morosow ist jüdischer Abstammung; er hat seine Frau und sein Kind verlassen, um in Deutschland Fuß zu fassen. Petrojahn Petru (38) aus Rumänien dagegen lobt die Ruhe und die frische klare Waldluft. Er fühle sich auch wohl im Osten Deutschlands wegen der freundlichen Menschen, wie er sagt. Alle Hoffnung, daß sich in Rumänien grundsätzlich etwas ändern werde, hat er begraben. „Die Securitate arbeitet unter anderem Namen weiter, es sind aber dieselben Leute!“ Oft sei er bedroht worden, habe auch anonyme Anrufe erhalten, weil er während des Sturzes der Ceaucescu-Regierung mit dafür gesorgt habe, der Geheimpolizei die Waffen zu entreißen. So bald wie möglich möchte er die Frau und seine Tochter, die gerade ein Jahr alt geworden ist, nach Deutschland holen.

Als die ersten Busse in Tambach- Dietharz ankamen, sahen die Fahrgäste aus dem sonnigen Nigeria, aus Vietnam, Pakistan und Ägypten bedrückt und enttäuscht aus. Weder ein Dolmetscher noch ein Betreuer waren erschienen. In Thüringen gibt es, wie Sozialminister Hans-Henning Axthelm versicherte, zur Zeit nicht einen einzigen Sozialarbeiter. Die beiden Busfahrer konnten keine Fremdsprache und waren überfordert. Der Heimleiter mühte sich nach Kräften und improvisierte. Derzeit beträgt der Anteil Ausländer an der Bevölkerung Thüringens weniger als ein Prozent. In absehbarer Zeit aber wird die einheimische Bevölkerung in vielen Orten mit Ausländern leben müssen, ob in Arnstadt, Hildburghausen, Elgersburg oder Erfurt. Jochen Wiesigel