Die Stadt vertreibt ihre Kinder aus dem Zentrum

■ Das »Rollheimer Dorf« am Potsdamer Platz muß verschwinden/ Heute sollen die ersten Bäume gefällt werden

Tiergarten. Die Vertreibung aus dem Zentrum beginnt. Heute sollen die ersten Bäum(chen) auf dem Potsdamer Platz fallen. Vor knapp zehn Jahren wurden die Birken und Erlen auf dem brachliegenden Gelände zwischen heutiger M-Bahn und Köthener Straße von den »Rollheimern« gepflanzt, ihre Kolonie, die mit zugeschneiten Hecken und Beeten, mit den herumstehenden Mopeds und Propangasflaschen eher an eine Siedlung von Laubenpiepern denn an eine Wagenburg von endgültigen Aussteigern erinnert, ist heute auf gut 50 Bauwagen und Wohnmobile angewachsen. Nicht nur die Bäume, sondern auch die Bewohner müssen verschwinden — Mercedes kommt.

Bis zum 15. April hat ihnen die »Grundstücksaktiengesellschaft am Potsdamer Platz« noch Zeit gelassen. »Natürlich werden wir gehen«, erklärt Wolfgang Niedrich, der seit '87 im »Rollheimer Dorf« wohnt. Die Aktiengesellschaft habe ihnen das Wohnen gegenüber dem rotbraunen Gebäude der Hochschule der Bildenden Künste immer erlaubt und sei »ausgesprochen kooperativ« gewesen. Dafür sei aber auch nie in Frage gestellt worden, »daß wir gehen, wenn die Verwaltung ihr Grundstück anders nutzen möchte«. Wo Niedrich ab April wohnen wird, weiß er nicht. Trotzdem stapft der beurlaubte Sozialkunde- und Volkswirtschaftslehrer zufrieden durch den 25 Zentimeter hohen Schnee zwischen den alten Wohnwagen durch und erklärt seinen Nachbarn voller Optimismus, daß es für alle einen anderen Platz geben werde.

Der 38jährige Studienrat hätte einen anderen Platz auch dringend nötig. Er wohnt mit seiner Frau und dem siebenjährigen Sohn in der Siedlung auf Rädern. Sie hatten bis vor vier Jahren in Friedenau gewohnt. Fünf Zimmer für 1.500 DM. Dann kam die weite Reise mit einem Laster und dem Zirkuswagen, in dem jetzt manchmal alle drei zusammen wohnen und auf dessen Dach gerade der Schnee taut, weil im Wagen die Gasheizung kräftig wärmt. Nach der damaligen Reise wollte die Kleinfamilie nicht mehr zurück in ihre Wohnung.

Es war Zufall, daß sie ausgerechnet auf dem Flecken an der Köthener Straße haltmachten. »Das Kind kann hier immer raus«, gibt der Beamte a.D. mit Schnauzbart und Pferdeschwanz als einen von vielen Gründen für das Leben auf dem Platz an. Trotz des Wohnens auf Rädern unterscheidet sich sein Leben kaum von dem der übrigen Berliner. Niedrich verdient seinen Lebensunterhalt in seinem »Urlaub« mit der Pressearbeit für einen kleinen Zirkus in Westdeutschland. Seine Frau arbeitet als Ärztin, und Nachwüchsler Philipp ist an diesem Freitag morgen in der Schule. Im Zirkuswagen ist der Fernseher so selbstverständlich wie das Telefon.

Eine andere Bewohnerin des »Rollheimer Dorfes« ist Sigrun Scholtz. Sie wohnt im Kofferraum eines Mercedes-Lasters, ihr Sohn Benni (5) hat seit neuestem einen eigenen Bauwagen. Die technische Zeichnerin sieht sich ab April schon an den Straßenrand gedrängt. Mit ihrem Sohn könne sie nicht einfach woanders hinziehen, er habe hier seinen Kita-Platz und seine Freunde. In ihrer »Wohnung« sieht es genauso aus wie in Niedrichs Zirkuswagen oder in denen von anderen »Rollheimern«: kitschig. In jeder Ecke gibt es Kleinigkeiten — ob nun Urlaubsfotos, fernlenkbare Spielzeugautos, Seidenblumen oder Porzellanfiguren. Daß überall Kleinigkeiten sind, liegt einfach an der Enge. Die 29jährige muß auf 12 Quadratmetern schlafen, schreiben, kochen und bei schlechtem Wetter mit Benni spielen. Hund Gonzo paßt gerade unter den einzigen vollgepackten Tisch.

Um auf irgendeiner freien Fläche in der Nähe des Potsdamer Platzes bleiben zu können, hofft Niedrich auf eine Initiative prominenterer Politiker. Einer hatte sich schon einmal für die »Rollheimer« eingesetzt — als ihn kaum jemand kannte: Walter Momper, damals Fraktionsvorsitzender der SPD. Er hatte 1988 die »Grundstücksaktiengesellschaft« gebeten, das »Verbleiben des Dorfes auf dem Gelände so lange zu ermöglichen, wie dafür keine konkrete Nutzung beschlossen ist«. Vielleicht kennt Momper ja noch einen Platz im Zentrum. »Wir wären schon zufrieden, wenn wir erst mal für ein Jahr eine Bleibe hätten«, sagt Niedrich. Momper war bislang nicht zu erreichen. Sein Pressesprecher erklärte, daß er vermutlich Wichtigeres zu tun habe. Dirk Wildt