Die Maschinen sind nicht beherrscht

Die Berliner „Inventionen '91“ — ein Festival für elekro-akustische Musik  ■ Von Frank Hilberg

Die „Inventionen“ sind eines der wenigen Berliner Festivals, die sich durch kontinuierliche Arbeit ein Profil erarbeitet haben und nicht bloß Konzerte aneinanderreihen. Zwischen dem 2. und 13. Februar haben das Elektronische Studio der TU Berlin, die Akademie der Künste (West) und der DAAD gegen alle Hindernisse ein hochinteressantes Programm durchgeführt.

Im Vergleich zu den letzten Jahrgängen hat das Festival kräftig abgespeckt — finanzpolitische Zwänge hatten eine Fastenkur verordnet. Die Reduktion von dreißig auf zehn Konzerte ist dem Programm erstaunlich gut bekommen — fast alle Konzerte waren ausverkauft. Die Interpreten sind besser gewählt und die Konzerte sorgfältiger zusammengestellt. Auch in der Wahl des Themas hatte man eine glückliche Hand. Zeigten die letzen Jahre, daß Leitgedanken wie „Streichquartett“ und „Ensembles“ in ihrer Allgemeinheit noch lange kein Thema sind, war der Einfall, Luigi Nono eine Retrospektive zu widmen, trefflich. Zum einen hat der Tod Nonos im Mai letzten Jahres das Interesse an seinem Oeuvre steigen lassen. Den Lorbeerkranz des Genies erwirbt ein Komponist eben erst mit seinem Tode.

Zum anderen sind Stücke von Nono in Berlin nur selten zu hören gewesen, obwohl er viele Jahre hier gelebt und gearbeitet hat. Schließlich gilt er zunehmend als Gralshüter der wahren Idee der Alt-Avantgarde, nachdem sich Stockhausen mit seinen kosmischen Märchenopern ins Abseits begeben hat und Boulez nicht mehr zum Komponieren kommt.

Der Auftakt zum Fest war allerdings gründlich mißlungen. Angekündigt wurde ein Nono-Symposium, aber es war eine Plauderei zwischen seinen Schülern, Interpreten und Exegeten. Dabei war die Runde hochkarätig besetzt: die Komponisten Helmut Lachenmann und Wolfgang Rihm, die Sachverständigen Jürg Stenzl und Klaus Kropfinger sowie Nonos Assistenten aus dem Experimentalstudio Freiburg hätten sicher interessante Aspekte auf gezielte Fragen hin zu bieten gewußt. Aber unter einer hilflosen Moderation geriet zur pittoresken Geniekulthandlung, was eine kritische Auseinandersetzung hätte sein müssen.

Die Auswahl der Stücke reichte von den seriellen Anfängen der fünfziger Jahre bis zu Nonos Spätstil. Leider sind die Tonbänder seiner frühen elektro-akustischen Stücke in einem erbärmlichen Zustand, restauratorische Maßnahmen wären dringend erforderlich. Im Falle von La fabbrica illuminata (1964) verschleierten die verblichenen Höhen, die dumpfen Bässe und der unbewältigte Gesangspart die eigentlich brüllenden Klänge des Stahlwerkes und der Arbeiter zum verstaubten Genrebildchen aus dem Photoalbum des kommunistischen Großvaters.

Die Stücke der achtziger Jahre brachten Nono den Ruf des Suchenden und Visionärs; im Zeitalter der Überproduktion ästhetischer Waren gilt nicht mehr das Schöpferische als Zeichen des Genialen, sondern das Wählen und Verwerfen. Der Titel seines Werkes Risonanze erranti (1986) bringt einiges auf den Punkt: die Suche nach den wandernden Resonanzen, das Lauschen nach dem Verklingen an Orten, wo sich der Schall im Raume bricht. Erzeugt wird solche Musik des tastenden Hörens mit einem ungeheueren Aufwand an Elektronik, die aber so unauffällig eingesetzt ist, daß kaum etwas davon ins Bewußtsein tritt.

In Con Luigi Dallapiccola (1979) für sechs Schlagzeuger wird das dezente Spiel auf Fell, Metall und Holz durch Verstärkung angehoben, „vergrößert“ und stellt Nuancen heraus, die sonst kaum zu hören sind. Es entwickelte sich eine leuchtende Musik die sinnlich so eindringlich wirkte, daß eine metaphysische Verbrämung nicht nötig ist (ein Vorwurf, der fast allen Kommentaren von und zu Nono zu machen ist).

Die „Inventionen“ haben von jeher die Präsentation von elektro-akustischer Musik zum Mittelpunkt. Dies macht das Festival geradezu unentbehrlich, solche Musik wird in anderen Zusammenhängen nicht aufgeführt. Bedenkt man, welch weitreichende Folgen die elektronische Musik auf das Komponieren überhaupt hat und hatte, ist dem Elektronischen Studio der TU Berlin für die Kontinuität auf diesem Gebiet der verbindlichste Dank auszusprechen. In einem Konzert wurden aktuelle Produktionen dieser Klangschmiede vorgestellt, hinzu gesellte sich ein Gastspiel des Elektronischen Studios Basel.

Im vierzigsten Jahr ihrer Existenz steckt die elektronische Musik noch immer in den Kinderschuhen. Einer der Gründe ist sicher die sprunghaft ansteigende Komplexität der Geräte. Selbst versierte Tontechniker kommen kaum mit dem Lesen von Handbüchern, Gebrauchsanweisungen und Programmanuals hinterher. Und wie sollten es die Komponisten, die ja kaum den Lautstärkeregler bei einer Hifi-Anlage finden? Die Maschinen sind nicht beherrscht, ein Umstand der dazu führt, das Naheliegendste zu machen.

Zum Beispiel Michael Obst, der Nachtstücke (1990) komponierte. Er setzt das DX-7 ein — ein Synthesizer der in der Pop-Musik Furore gemacht hat, dessen Sounds in Tausenden von Produktionen ausgebeutet wurden. Mit diesem DX-7 rollt Obst Klangteppiche aus, auf die von den Instrumenten noch ein paar Muster gezeichnet werden dürfen. Daß die Synthie-Strings, die Funk-Bass-Imitate und andere Anleihen der Pop- Kultur sehr blaß und fade verarbeitet wurden, ist eine andere Sache; die penetrante Verwendung der „FM- Modulation“ (wenn's nach DX-7 klingt) und des „digital delay“ (wenn der Sound so richtig trieft und wabbelt) disqualifiziert den Anspruch mit den elektronischen Mitteln schöpferisch zu arbeiten.

Bei den live-elektronischen Verfahren steht ein Instrument mit einer elektronischen Apparatur, sei es ein Computer, seien es Filter oder Modulatoren, in einem Dialog. Sollte es jedenfalls. In (1990) von Robin Minard stellte sich die Klarinette zwar kurz vor, aber die Musik ereignete sich dann ohne sie. Ein Computer analysierte das Klangspektrum, Obertöne schwollen an und wieder ab, wurden im Raum verteilt und erst nach einer langen Weile kam die Klarinette wieder kurz zu Wort. Solch klangverliebter Narzißmus, der, fasziniert von der Gestalt des Selbsthervorgebrachten die Stimmen anderer nicht mehr wahrnimmt, könnte auf das Instrument ebensogut verzichten. In dem Stück Am Fenster (1990) von Mayako Kubo gab es eine Wiederbegegnung mit der verstorben geglaubten Musique Concrète. Geräusche, die als Fundstücke verwendet werden, haben die höheren Weihen ernsthaften Komponierens bisher nicht erhalten. Es ist unverständlich, daß die verzweifelte Suche nach kompositorischem Material dieses riesige und hochinteressante Feld brach liegenläßt. Hier gibt es noch viele Schätze zu bergen. Warten wir auf die nächsten „Inventionen“.