Bildungsbürgerliche Augenwischerei?-betr.: "Das Echo der eigenen Vergangenheit" (Hans Magnus Enzensberger über Saddam Hussein, Hitler, die Irakis und die Deutschen), taz vom 8.2.91

betr.: „Das Echo der eigenen Vergangenheit“ (Hans Magnus Enzensberger über Saddam Hussein, Hitler, die Irakis und die Deutschen), taz vom 8.2.91

Jetzt kaut auch Enzensberger die alten, liebevoll gepflegten Klischees über die dumpfen Hordeninstinkte der kriegsgeilen (Groß-)elterngeneration wieder, die sich angeblich nach der „Lizenz zum Töten, mehr noch nach kollektivem Selbstmord“ sehnte. Diese Vergangenheitsbewältigungsmuster erleichtern zwar, sich (als nachträgliche Widerstandskämpfer) von der Geschichte zu distanzieren — realistisch sind sie nicht.

In der aktuellen Situation wäre es hilfreicher, den „unerschütterlichen Friedenswillen des deutschen Volkes und seiner Regierung“, der in der „Friedenspropaganda“ der Vorkriegs- und auch der Kriegsjahre eine entscheidende Rolle spielte, kritisch zu analysieren. 1938 klagte Hitler in einer Geheimrede vor den Hauptschriftleitern der gleichgeschalteten Presse: „Die Umstände haben mich gezwungen, jahrzehntelang fast nur vom Frieden zu reden... Das hat leider in den Gehirnen vieler Menschen zu der Auffassung geführt, das heutige Regime sei an sich identisch mit dem Entschluß und dem Willen, einen Frieden unter allen Umständen zu bewahren... Es ist nunmehr notwendig, das deutsche Volk psychologisch allmählich umzustellen und ihm langsam klarzumachen, daß es Dinge gibt, die... nicht mit friedlichen Mitteln durchgesetzt werden können.“

1991 klagte Heiner Geißler nicht geheim, sondern vor dem deutschen Bundestag: „Ich habe den Eindruck, daß offenbar bei einigen in unserem Lande die Auffassung vorhanden ist, daß der Friede unter allen Umständen ein oberster Grundwert sei... Ich bin der Meinung, daß dies wohl nicht richtig sein kann. Deswegen ist unser Beitrag (es ging um die „Kriegssteuer“) in Wahrheit ein Beitrag für den Frieden.“

1939 zog ein Volk, das sich wie alle anderen Völker zutiefst nach Frieden sehnte, traurig und niedergeschlagen über die Erfolglosigkeit aller Friedensbemühungen aber entschlossen und kampfbereit in einen ungewollten, leider unvermeidbaren „gerechten“ Krieg, da es den bösen Nachbarn [...] so gefiel. [...]

Enzensberger setzt den „frenetischen Jubel“ eines ausgesuchten Publikums für den „totalen Krieg“ einer Volksabstimmung gleich. Dann sollte er auch die wenige Wochen zuvor, am 24.Januar 1943 veröffentlichte Resolution der Konferenz von Casablanca erwähnen: Beendigung des Krieges nur mit der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands.

Die Wahrheit über den Golfkrieg wird man, wenn überhaupt, erst in 20 Jahren herausfinden. Es wird bestimmt nicht die sein, für die die Soldaten der kriegführenden Staaten zu kämpfen glauben und für die sie bereit sind, elend zu verrecken, wie meine Brüder, meine Vettern, meine Jugendfreunde, die das Leben liebten und „dran glauben“ mußten, weil sie „dran geglaubt“ hatten. K.Steinfelder-Ruge, Hamburg

[...] Der Sachverhalt, daß Hitler mit Hilfe seitens von Papen und den in den letzten Atemzügen liegenden Hindenburg mit demokratischen Mitteln zur Macht gelangte, wird ebenso vergessen, wie der Sachverhalt, daß Saddam Hussein weder eine „charismatische“ Persönlichkeit ist, noch auf fanatische Massen bauen konnte, als er an die Macht kam. Seine Diktatur verdankt Saddam Hussein einem Militärputsch, der in der langen Tradition von vorangegangenen Putschen und Intrigen zu sehen ist. Eine Demokratie gab es im Irak nicht, und mußte daher auch nie „augeschaltet“ werden.

Sicherlich, die Parallelen sind augenfällig: Staatsterror, Unterdrückung von Minderheiten und Oppositionellen bis hin zur Folter und Hinrichtung, ein frustriertes Volk, daß auf die „Erlösung“ durch einen starken Mann hofft. Erstgenannte Faktoren aber sind weder Hitler-spezifisch noch Saddam-Hussein-spezifisch, sondern auch in proamerikanischen Regimen wie in Chile, im Iran des Schahs, in Ägypten und Syrien zu finden, sowie in der Westbank und im Gazastreifen. [...] Worauf ich hinaus will ist, daß diese Faktoren Mittel zum Zweck sind. Sie sind nur dann zu verurteilen, wenn von diesem Zweck die Vereinigten Staaten wie auch die Industrienationen nicht profitieren können oder sie sich gar als hinderlich für ihre „open-door- Konzeption“ erweisen. [...]

Wenn Enzensberger behauptet, daß Persönlichkeiten wie Hitler überall auf der Welt aus dem Boden schießen können und daß ihr Vorhandensein eben ein „anthropologisches Problem“ darstelle, so ist doch zu fragen, ob es sich bei dieser Feststellung nicht um bildungsbürgerliche Augenwischerei handelt. Vielmehr geht es doch um etwas sehr Konkretes, nämlich um die Ausschaltung der Oppostion als Mittel der Konfliktbewältigung. Dieses resultiert aus einem weitverbreiteten kurzsichtigen Denken heraus, welches linear und „ohne lang zu fackeln“ den kürzesten und direktesten Weg sucht, um Interessen durchzusetzen. Die totale Kontrolle über die Opposition findet man/frau nicht nur auf dem blutigen Boden des Irak wieder, sondern ist generell überall, wenn auch sehr unterschiedlich gut ausgepolstert, anzutreffen. Dieses Problem ist vollkommen unabhängig von einem Führerkult.

[...] Statt der Frage des „Gesichtsverlustes“ vor dem Ablauf des sogenannten UNO-Ultimatums sollte lieber mal die Frage des „Geschichtsverlustes“ debatiert werden. Sicherlich geht es Saddam Hussein um eine Vormachtstellung im Nahen Osten, doch was ihm Rückendeckung gibt, sind nicht nur einige Iraker, die ihn fürchten, sondern antiimperialistische Bewegungen im gesamten arabischen Raum. Diese Bewegungen entstehen aber nicht ohne ein Gegenüber, dem Imperialismus nämlich, und die als „Erblast“ empfundene Kolonialzeit. Auch ist der arabisch- islamische Kulturkreis ein anderer, der eurozentristisch keineswegs mit der europäischen Geschichte verglichen werden kann. [...]

Doch der Verlust an Geschichte macht sich nicht nur im Hinblick auf die arabischen Länder bemerkbar. Auch der Kapitalimsus ist nicht fähig, aus seiner eigenen Geschichte zu lernen. Die Politik des heutigen hochentwickelten Nordens gegenüber den Staaten des Südens im globalen Maßstab erinnert „unweigerlich an die Methoden des Manchesterkapitalismus der vergangenen Jahrhunderte, die unter anderem darin bestanden, die politisch schutzlose Arbeiterschaft maßlos auszubeuten und überdies alles daran zu setzen, die Entstehung von jenen kollektiven Interessen und Schutzorganisationen der Arbeiterschaft zu verhindern“. ('Frankfurter Rundschau‘ vom 9./10.10.90: „Über die politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Hintergründe des Golfkrieges“ von Mohssen Massarrat). Es hat jahrzehntelanger Kämpfe bedurft, bis der Kapitalismus begriff, daß die Verteilung der Ressourcen (Arbeitskraft=Naturkraft/Rohstoffe) und die volle Souveränität der Eigentümer, nicht das Ende des Kapitalismus bedeutet, sondern im Gegenteil diesen nur noch effizienter macht. Gerade konservative Politiker ziehen in die Wahl mit dem Postulat der Überwindung von dirigistisch manipulierten Preisen, einen freien Austausch der Waren, die Schonung natürlicher Ressourcen, doch insgesamt übersehen sie, daß dies Folgen einer Veränderung des Kräfteverhältnisses im Nahen Osten wären.

Bleibt nichts anderes zu sagen als: Es geht voran, Geschichte wird gemacht — aber blickt ja nicht zurück! Stella Weymann, West-Berlin