„Es wäre falsch, Irak zu zerstören“

■ Edgar Pisani, Berater von Fran¿ois Mitterrand, zur „arabischen Nation“, zum Golfkrieg und zur französischen Waffenexportpolitik INTERVIEW

Edgar Pisani gilt als einer der undiplomatischsten unter Fran¿ois Mitterrands Beratern. Vielleicht hat er deshalb als Diplomat soviel Erfolg. In den sechziger Jahren führte er als de Gaulles Landwirtschaftsminister Frankreich in den gemeinsamen Agrarmarkt Europas. Unter der Regierung Fabius handelte er erfolgreich einen Unabhängigkeitsstatus für die Überseeprovinz Neukaledonien aus. Heute leitet Pisani das „Institut du Monde Arabe“ in Paris.

taz: In der Debatte um den Golfkrieg taucht immer wieder der Begriff der arabischen Nation auf. Taugt dieser Begriff für die Analyse der Situation der Region überhaupt etwas?

Edgar Pisani: Die „arabische Nation“ ist ein tauglicher Begriff, insofern die Identität der Zugehörigkeit, die Identität der Religion und die Identität der Sprache Elemente einer sehr starken Einheit bilden. Aber insofern der Begriff der arabischen Nation als politischer Begriff verwendet wird, muß festgestellt werden: Es gibt keine wirkliche Einheit der arabischen Welt. In den letzten 50 Jahren gab es im Grunde eine Art Balanceakt zwischen dem arabischen Nationalismus und den spezifischen Nationalismen. Es gab Zeiten, zu denen — denken wir nur an Nasser — der arabische Nationalismus sehr stark wurde, zu anderen Zeiten wurden die partikularen Nationalismen stark. Es geht also eher um eine werdende Nation als um eine wirkliche, bereits existierende Nation. Letztlich könnte man sagen: Es gibt eher ein nationales Gefühl als eine Nation.

Frankreich, Deutschland, die Sowjetunion und andere Staaten haben die irakische Diktatur gegen die Gefahr, die von Khomeinis Diktatur ausging, hochgerüstet. Und jetzt scheint man Saddam nur noch mit einem Krieg bändigen zu können. Läuft der Westen nicht Gefahr, den Fehler zu wiederholen, wenn jetzt Staaten wie Saudi-Arabien oder Syrien aufgerüstet wurden? Immerhin hat Syrien ja auch Scuds, chemische Waffen, einen Diktator, eine alleinregierende Baath-Partei und zudem noch eine gemeinsame Grenze mit Israel, das syrisches Territorium besetzt hält.

Erstens: Es war richtig, Saddam Hussein zu helfen, den Iran aufzuhalten. Zweitens: Es war falsch, den Irak danach weiter aufzurüsten. Drittens: Es wäre falsch, ihn zu zerstören. Weshalb? Das Gleichgewicht dieser Region ist multipolar. Wenn wir es nicht schaffen, ein sehr ausgeglichenes Puzzle-System aufzubauen, mit der Türkei, dem Iran, Syrien, Irak, Saudi-Arabien, Ägypten und mit Israel, wird es einen Krieg nach dem anderen geben. Und jeder Versuch, einem der Akteure der Region eine hegemoniale Rolle zuzuweisen, wird die Gefahr von Forderungen der übrigen nach sich ziehen. Deshalb scheint es mir sehr gefährlich, die irakische Macht zu zerstören, denn dann würde sich jemand anders an deren Stelle zu setzen versuchen, den man dann bekämpfen müßte.

In Deutschland rechtfertigen viele den Krieg nicht nur mit der Notwendigkeit der Durchsetzung des Völkerrechts, sondern auch mit der Notwendigkeit, tödliche Gefahr von Israel abzuwenden. Wenn Sie nun sagen, das irakische Militärpotential darf nicht zerstört werden, heißt das doch, daß Israel weiterhin mit einem gewissen Risiko eines chemischen Angriffs leben muß.

Ich sagte: Es darf nicht zerstört werden, das heißt nicht, daß keine Schranken durchgesetzt werden sollen. Zur Zeit ist man aber tatsächlich dabei, es zu zerstören. Das Potential des Irak zu vernichten, es auf Null zu bringen, heißt einen Raum ohne Macht zu schaffen, bedeutet gleichzeitig den Appetit des Iran, der Türkei, der Kurden und Syriens anzuregen. Man würde also einer ganzen Reihe von Ländern, die nur darauf warten, ihr Territorium auszuweiten, eine leichte Beute hinwerfen. Wir dürfen also nicht ein Ungleichgewicht durch ein anderes ersetzen. Schauen wir also lieber, wie wir ein bedrohliches, inakzeptables Ungleichgewicht, das sich mit unserer Komplizenschaft herausgebildet hat, durch ein Gleichgewicht ersetzen können. Dann müssen wir aber auch über Israel sprechen. Israel hat Massenvernichtungsmittel. Das wirkliche Problem der Zukunft ist also das eines kollektiven Sicherheitspaktes in dieser Region, dessen Einhaltung von der UNO garantiert werden müßte.

Glauben Sie, daß nach diesem Krieg die Sicherheit Israels größer ist als vorher?

Zunächst glaube ich, daß bei der politischen, militärischen und intellektuellen Elite der arabischen Staaten die Idee, daß Israel verschwinden sollte, nicht mehr existiert. Man weiß, Israel ist da und daß es keinen Sinn macht, es zum Verschwinden zu bringen. Zweitens: Die Araber mobilisieren also nicht mehr gegen die Existenz Israels, sondern gegen seine Ausdehnung und seinen Expansionismus.

Vielleicht führt der Krieg zu einer Lösung

Das Wort, das in Gesprächen mit arabischen Politikern immer wieder auftaucht, ist „Zionismus“, nicht „Israel“. Sicher gibt es bezüglich Israel Probleme, die außerordentlich schwierig zu lösen sind, z. B. der Status von Jerusalem oder die Immigration sowjetischer Juden. Doch glaube ich, die arabische Welt ist bereit, für die Regelung der Probleme dieser Region ihren Beitrag zu leisten und ein Gleichgewicht, wie ich es skizziert habe, zu akzeptieren. Nehmen wir das Beispiel Arafat. Er hat 1988 beim Kongreß in Algier die Existenz Israels anerkannt. Wenn die USA, wenn die UNO bei der Lösung der Probleme Maß zu halten verstehen und Respekt für die arabische Realität aufbringen, ist nicht ausgeschlossen, daß aus diesem Krieg eine wirkliche Lösung hervorgeht. Das erfordert viel Weisheit und viel Mut.

Kurzfristig wird dieser Krieg im besten Fall einen Diktator zum Sturz bringen und sein militärisches Potential zerstören. Doch was wird der Preis sein? Droht nicht eine Radikalisierung in der arabischen Welt die Ansätze einer Demokratisierung, wie wir sie in jüngster Zeit in Algerien, Jordanien und anderen Ländern der arabischen Welt feststellen können, zunichte zu machen?

In gewisser Weise ist es ja auch so, daß die zivile Gesellschaft nun von der Situation profitiert, um sich gegen die lokale Macht auszusprechen. Ich will damit nicht behaupten, daß ein solcher Ausdruck der zivilen Gesellschaft per se mit Demokratie gleichzusetzen sei. Doch in Marokko und Algerien hat sich erwiesen, daß der Staat nicht der einzige ist, der denkt, nicht mehr der einzige, der spricht, und da liegen Fermente für die Entwicklung von Demokratie. Ich behaupte nicht, daß das selbst schon Demokratie ist. Wohin dieser Prozeß führen wird, weiß niemand. Das kann zur Machtergreifung von Extremisten führen, die nicht demokratischer sind als jene, die heute an der Macht sind, das kann aber auch zum Entstehen einer Form von Demokratie führen, die die Araber selbst finden müssen. Denn unser demokratisches System ist ja nicht das einzig mögliche.

Was legen Sie als Präsidentenberater Fran¿ois Mitterrand bezüglich einer künftigen Waffenexportpolitik nahe? Soll Frankreich weiter in den Nahen Osten Waffen liefern?

Kein Staat, der verantwortlich handeln will, kann nun weiterhin Waffenexporte in eine unstabile Region akzeptieren, außer er trüge dadurch dazu bei, ein gegenseitig abgesprochenes Gleichgewicht herzustellen. Wir dürfen keine individuellen nationalen Abenteuer mehr begünstigen.

Teilt Mitterrand diese Ansicht?

Was das Problem der Waffenexporte betrifft, hat er mir jüngst bestätigt, daß es nun ein System kollektiver regionaler Sicherheit geben muß. Und regionale kollektive Sicherheit kann es nur auf Basis eines Gleichgewichts, nicht auf Basis von Dominanz eines Staates geben. Man muß beim Waffenexport umso vorsichtiger sein, als es hier um eine Region geht, in der es territoriale Forderungen gibt.

Es kommt wieder Bewegung in die Diplomatie: Primakow war in Bagdad. Tarek Aziz weilt zur Zeit in Moskau. Saddam Hussein erklärte sich vergangene Woche bereit, „mit der Sowjetunion und anderen Ländern eine friedliche, politische, ausgeglichene und ehrenhafte Lösung der Probleme der Region, die Situation am Golf inbegriffen“, zu suchen. Könnte Frankreich eines der „anderen Länder“ sein, oder wird es sich auf der harten Linie Bushs bewegen?

Frankreich ist auf der einen Seite für die Fortsetzung der Operationen, die sich im Rahmen der UNO-Resolutionen bewegen, auf der anderen Seite wird es nie darauf verzichten, eine diplomatische Lösung zu suchen — auf der Basis dieser Resolutionen. Das kurzfristige Problem: Wie kann man Kuwait befreien, ohne viele Menschen zu töten? Das langfristige: Wie kann man jenseits der Kuwait- Frage die anderen Probleme der Region lösen? Frankreich wird immer tendenziell eine diplomatische Lösung auf Basis des Respekts gewisser Prinzipien vorziehen. Bush hat ein 400.000 Mann starkes Expeditionscorps in Saudi-Arabien stehen. Auf der Basis desselben Prinzips, desselben Willens können eben Länder, die auf der Weltkarte weit auseinander liegen, trotzdem eine verschiedene Sichtweise haben und nicht denselben Kampf führen. Wenn wir uns in die Probleme zwischen Mexiko und den USA einmischen würden, wären die USA schockiert. Sie müssen wissen, daß für uns der Maghreb Mexiko ist, das heißt der Nachbar von nebenan, der Nachbar, der zudem einige Millionen Kinder bei uns hat. Doch wir sind uns einig: Saddam muß Kuwait verlassen, er darf nicht weiterhin eine Gefahr darstellen.

Die USA sollen keine stärkere Rolle spielen

Aber das eigentliche Problem stellt sich jenseits dieser vordergründigen Ebene. Der Golfkrieg ist Teil des Konflikts um das Gleichgewicht im Nahen Osten und dieses nur Teil eines Gleichgewichts in einem größeren Rahmen, der auch den Mittelmeerraum umfaßt, und dies wiederum Teil des weltweiten strategischen Gleichgewichts und damit Teil der Definition der Rolle der USA jenseits ihres eigenen Kontinents. Wir können nicht die gleiche Sichtweise haben wie die USA.

Die USA werden ja nach dem Krieg in der Nahostregion eine stärkere Position haben als vorher...

Ich sage Ihnen ganz klar: Ich wünsche es mir nicht. Ich bin zutiefst schockiert darüber, daß ein Land nur deshalb mächtig ist, weil es die Waffen hat. Die USA, die ja auf wirtschaftlicher Ebene beträchtliche Schwierigkeiten haben, bringen Japan und Europa zum Schweigen, weil die militärisch schwach sind. Wie lange wird die Welt noch akzeptieren, daß Länder einen Gendarmen bezahlen, um die Weltordnung, eine kapitalistische übrigens, zu verteidigen. Japan, Deutschland und die Ölmonarchien finanzieren den Gendarmen, damit die Ordnung, von der sie profitieren, dieselbe bleibe. Interview: Thomas Schmid und Alexander Smoltczyk